Immer mehr Menschen über 65 Jahre kommen mit ihrer Umwelt nicht mehr richtig zurecht. Sie können sich kaum noch etwas merken, vergessen, wo sie sind und wer sie waren. Selbst ihre Persönlichkeit und ihr Verhalten ändert sich: Unsicherheiten und Misstrauen, Depressionen und eine ungewohnte Reizbarkeit, ja sogar Wut und Aggressionen machen den Betroffenen, aber vor allem auch ihren Angehörigen das Leben schwer.
Die Häufigkeit des Krankheitsbilds Demenz nimmt rapide zu: Inzwischen wird in den Ländern der EU jeden Tag etwa 2.500 Mal die Diagnose einer Alzheimerschen Krankheit gestellt. Diese immens hohe Zahl wurde Anfang Juni bei einer Tagung von Alzheimer Europe, der Organisation, die sich europaweit für Alzheimer-Patienten und ihre Angehörigen stark macht, im niederländischen Maastricht vorgestellt.
Obwohl viele Betroffene und auch Angehörige die sich langsam einschleichenden Veränderungen über Wochen und Monate beobachten, ehe sie zum Arzt gehen und gewissermaßen schon mit der Diagnose rechnen, trifft diese die Familien dann doch wie ein Schock. “Es ist wie ein Erdbeben, das die Familie erschüttert”, sagte Micheline Selmes aus Madrid, Vertreterin von Alzheimer Europe in Maastricht. Entscheidend für die Familien sei der Zeitpunkt der Diagnosestellung und auch die Art und Weise, wie die Diagnose vermittelt wird. In beiden Punkten aber gäbe es noch erhebliche Verbesserungsmöglichkeiten. Viele Patienten wie auch Angehörige fühlten sich mit der Diagnose weitgehend allein gelassen und erhielten von ihren Ärzten nur unverständliche oder unzureichende Informationen. Das hat eine Erhebung von Alzheimer Europe, die OPDAL-Studie (Optimization of the Diagnosis of Alzheimer´s disease and related disorders), ergeben. Die wichtigsten Daten der Untersuchung, in der 323 Familien aus elf europäischen Ländern befragt wurden, wurde bei der Tagung in Maastricht der Öffentlichkeit vorgestellt.
Im Durchschnitt sind die Pflegenden, so die OPDAL-Daten, selbst über 60 Jahre alt. Knapp 60 Prozent der Alzheimer-Patienten werden von ihrem Lebenspartner betreut, nur in einem Drittel der Fälle erfolgt die Pflege durch eines der Kinder. Das erklärt auch das vergleichsweise hohe Alter der Pflegenden.
Dass es sich bei der Erkrankung um eine zunehmende Verwirrung, eine so genannte Demenz, handelt, ist den Angehörigen oft nicht von Anfang an klar. Zwar erklären etwa 80 Prozent der Befragen, das Krankheitsbild habe mit Gedächtnisstörungen begonnen. Fast ebenso häufig werden als anfängliche Symptome aber auch Veränderungen des Verhaltens wie Gereiztheit und Rückzüge der Betroffenen genannt und oft gehen beide Symptome Hand in Hand. “Die Alzheimersche Krankheit betrifft keineswegs nur die Merkfähigkeit und das Denken, sondern auch das Verhalten. Das aber wird häufig noch verkannt”, erklärte Micheline Selmes.
Da die Betroffenen selbst oft versuchen, erste Defizite, die sie an sich bemerken, zu vertuschen, ergreifen in den meisten Fällen die Angehörigen die Initiative. Sie sind oft der Motor, der den sich verändernden Menschen zum Arzt treibt. Sie sind es auch, die sich um weitere Informationen und Hilfsmöglichkeiten kümmern sowie den Kontakt zu Selbsthilfeorganisatio-nen suchen. Allerdings ist dieser Weg oft weit. “Zu weit”, meint Professor Dr. Pasquale Calabrese aus Bochum, der die OPDAL-Studie für Deutschland wissenschaftlich begleitete. Denn die Erhebung zeige, dass es oft quälend lange dauert, ehe die Diagnose tatsächlich gestellt wird: Nur etwa jeder Fünfte erfahre innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Veränderungen bemerkt werden, was mit ihm los ist. Bei jedem Dritten dauere der Prozess dagegen länger als eineinhalb Jahre und weitere 20 Prozent erfahren die richtige Diagnose erst nach einem Jahr. So vergeht bei jedem zweiten Patienten mindestens ein ganzes Jahr, ehe klar ist, auf welcher Krankheit die beunruhigenden Veränderungen beruhen. “Damit aber geht wertvolle Zeit verloren, Zeit die die Betroffenen zusammen mit ihren Ange-hörigen nutzen könnten, um ihre persönlichen Belange zu regeln und die Betreuung des Patienten zu organisieren”, so Calabrese.
Die OPDAL-Studie offenbart ein weiteres Manko: So wird laut Professor Christian Decrouesné, Paris, in 52 Prozent der Fälle die Diagnose nicht dem Betroffenen, sondern allein seinen Angehörigen mitgeteilt. “Das ist eine Situation, wie sie noch vor 30 Jahren bei Krebspatienten üblich war”, wurde in Maastricht kritisiert. Die Reaktion auf die Diagnose bestehe oft-mals in Unsicherheiten, in einer Art Verweigerungshaltung, aber auch in Ärger und Ängsten. Mit solch emotionalen Reaktionen umzugehen, falle offensichtlich vielen Ärzten schwer, was erklären könne, warum die Diagnose häufig erst so spät mitgeteilt wird, so Calabrese. Viele Betroffene fühlten sich nach der Eröffnung der Diagnose mit dieser weitgehend alleine gelassen - ein erschreckendes Fazit, erklärte Sabine Janssen, Geschäfts- führerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft.
Knapp 60 Prozent der Betreuungspersonen haben zum Zeitpunkt der Diagnosestellung bereits mit dem Ergebnis “Alzheimer” gerechnet. 20 Prozent aber sind mit der Art, wie Ihnen die Diagnose eröffnet wurde, unzufrieden und wünschen sich mehr Informationen über die Erkrankung. In die-sem Zusammenhang fiel Decrouesné auf, dass 40 Prozent von ihnen praktisch keine weitere Aufklärung erhalten hätten. Wenn doch, wurde zumeist auf potenzielle Nebenwirkungen der medikamentösen Therapie hingewiesen, weniger aber darauf, dass sich der Krankheitsverlauf durch Medikamente günstig beeinflussen lasse.
Dass dies tatsächlich möglich ist, belegen zwei in Maastricht vorgestellte Studien mit dem Wirkstoff Galantamin. Danach lasse sich eine statistisch eindeutige und klinisch relevante Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit erwirken. Parallel dazu ließen sich auch die Verhaltensaufälligkeiten hinauszögern. Außerdem gebe es mit Risperidon ein Präparat, das speziell für Verhaltensänderungen wie Aggression, Misstrauen und Unruhe bei alten Menschen zugelassen sei. Der Wirkstoff Risperidon beseitige die sehr belastenden Wesensveränderungen, ohne dass der Betroffene tagsüber müde wird.
Eine rechtzeitige medikamentöse Therapie mache den Patienten umgänglicher und erleichtere die Betreuung deutlich. Nicht selten könnten Heimeinweisungen mit den daraus resultierenden finanziellen Belastungen, Schuldgefühlen und belastenden Auseinandersetzungen mit den betroffe-nen Familienangehörigen vermieden werden.