Die so genannte Mikrodeletion 22q111 ist der zweithäufigste Gendefekt beim Menschen (nach der Trisomie 21 oder dem so genannten Down-Syndrom oder „Mongolismus“). Das heißt, ein winzig kleiner Teil der normalen Erbinformation für das Kind ist auf dem Chromosom 22 einfach verloren gegangen.
Die Kinder können schwer behandlungsbedürftig z. B. mit einem angeborenen Herzfehler auf die Welt kommen oder erst im Kleinkindalter mit einer ausgeprägten Störung der Sprachentwicklung auffallen. Manche Kinder zeigen auch ein „obsessives Verhalten“, das heißt lassen beispielsweise ihre Puppen nicht los, nehmen den Lolly nicht aus dem Mund und benehmen sich äußerst widerspenstig. Es können zudem Gedeihstörungen (das Kind isst nicht richtig), eine Immunschwäche (der Thymus entwickelt sich bei den Kindern nur teilweise oder gar nicht), eine Gaumenspalte (bis zu 69% der Patienten), zu niedrige Kalziumwerte oder auch eine Schwäche der Muskulatur gefunden werden.
Manchmal kann der erfahrene Untersucher den Gendefekt den kleinen Patienten auch an der Nasenspitze ansehen (Abbildung), charakteristisch sind ein langes Gesicht mit ausgeprägter hervorstehender Nase und einer breiten, kantigen Nasenwurzel. Auffällig sind auch eine flache Schädelbasis und ein nach hinten verlagerter Unterkiefer (Retrogenie). Auch die Ohren setzen tief an und sind eher nach hinten orientiert und zeigen enge Ohrenkanäle. Zwei Drittel der Patienten mit 22q111 leiden an Hörstörungen (Schalleitungsschwerhörigkeit), die unbedingt behandelt werden müssen (denn daraufhin kann kaum die Sprache erlernt werden).
An den Augen kann man Schlupflider (41%), Hängen des Oberlides (9%), Unterlidsack (6%) oder auch eine antimongoloide Lidfalte (3%) sehen. Verwundene Netzhautgefäße sind bei 58% der Patienten zu finden. Man findet auch Störungen der Zahnentwicklung – manche Zähne sind gar nicht angelegt oder wachsen erst viel zu spät und sind dann in der Mineralisation gestört und viel zu klein (Schmelzhypoplasie).
Sprechen die Kinder, näseln sie vor allem oder äußern sich auch schnarchend oder rasselnd. Denn die Betroffenen können die Nasenräume nicht richtig schließen (medizinisch: velopharyngeale Insuffizienz). Das heißt, sie sprechen so ähnlich wie Theo Lingen, berichtete Frau Dr. Christiane Hey von der Hals-Nasen-Ohren-Klinik/Phoniatrie und Pädaudiologie der Universität Frankfurt/Main. Meist würden diesen Kindern die Polypen entfernt, das führe aber oft noch zu einer weiteren Verschlechterung des Sprechens. „Deshalb sollte man eine Polypenentfernung bei diesen Kindern unbedingt vermeiden“, betonte Hey.
Eine Hörstörung können die Hals-Nasen-Ohrenärzte eventuell durch eine Paukendrainage in das Trommelfell bessern bzw. ganz beseitigen. Zudem empfahl die Referentin den Eltern, sich mit dem Kind mindestens eine Stunde am Tag ohne Hintergrundgeräusche (Radio oder Fernsehen) zu beschäftigen und wenn man mit ihm spricht, es immer per Blick zu fixieren, damit es auch die Lippen sehen kann (wegen evtl. Hörstörung). Positives Feedback – also Lob – tut ihm (jedem Kind natürlich!) besonders gut. „Sagt das Kind beispielsweise „Metterling“, berichtigen sie das Wort „Schmetterling“ laut und deutlich und wiederholen Sie es ruhig und bestimmt“, riet sie. Die Kinder könnten auch nichts mit Sprichwörtern anfangen, erzählte sie, das heißt die Kinder haben keine Abstraktionsfähigkeit von Sprache und das bedeutet, sie nehmen alles wörtlich. Wer ein betroffenes Kind hat, sollte unbedingt rechtzeitig mit dem Sprachtraining bei Experten beginnen. Hey warnte, dass Logopäden heute teilweise Wartezeiten bis zu zwei Jahren aufweisen!
Prof. Dr. Dr. Robert Sader, neu berufener Direktor der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie in Frankfurt, ging auf die besondere Sprechproblematik bei 22q111 ein. Diese ist nicht nur bedingt durch eine allgemeine Verzögerung der Sprechentwicklung, sondern es liegen häufig auch Störungen der eigentlichen Lautbildung (Artikulation) und der Luftstromlenkung durch den Mund vor. Bei dieser „velopharyngealen Insuffizienz“ kommt beim Sprechen zuviel Luft aus der Nase, so dass die Patienten häufig sehr schlecht verständlich sind. Ursache kann auch eine verdeckte Gaumenspalte sein, die häufig nur von einem Facharzt erkannt werden kann. In diesem Fall kann der Chirurg helfen, in dem er entweder die Gaumenspalte operativ verschließt oder eine so genannte sprechunterstützende Operation zur Verlängerung des Gaumensegels durchführt. Diese unterschiedlichen Sprach-Handicaps beeinflussen sich nicht nur gegenseitig, gleichzeitig spielt natürlich auch die allgemeine psychosoziale Entwicklung des Kindes beim Spracherwerb eine große Rolle. „Deshalb ist für die Diagnostik und Therapie dieses komplexen Störungsbildes eine Fachdisziplin allein überfordert“, fasst Sader zusammen. Deshalb ist hier interdisziplinäre Zentrumsmedizin das Schlagwort: Es arbeiten am Universitätsklinikum Frankfurt neben den Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, Humangenetikern und Hals-Nasen-Ohrenärzten/Phoniatern und Pädaudiologen, auch Kinderkardiologen und Kinderneurologen in dem medizinischen Kernteam. Ergänzt werden die Ärzte durch Mitarbeiter des erst kürzlich gegründeten ersten deutschen Zentrums für Kindliche Schluckstörungen (pädiatrische Dysphagie) in Darmstadt und durch Mitarbeiter des Fachbereichs Gesundheit (Logopädie) der Europa-Fachhochschule Fresenius in Idstein. Auch der Deutsche Logopädenverband hat schon seine Unterstützung zugesagt. Und der Fachbereich Sprechwissenschaften (Linguistik) der Universität Frankfurt unterstützt diesen neuen medizinischen Behandlungsschwerpunkt von der geisteswissenschaftlichen Seite aus.
Wie Prof. Dr. Rainer König vom Institut für Humangenetik in Frankfurt/Main erläuterte, liegt mit dem Fehlen der Erbinformation auf dem Chromosom 22 ein sehr variables und breites Krankheitsbild vor, denn in einer neueren wissenschaftlichen Arbeit würde über mehr als 180 Symptome berichtet. Das Thema Genetik hierzu ist sehr komplex, doch hier sind die Fakten:
Vor der Geburt eines Kindes: Eine Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) zeigt in der Regel nicht an, dass ein Gendefekt 22q111 vorliegt.
Im Ultraschallbild kann man vor der Geburt des Kindes eventuell über das Ausmessen der Nackenfalte des Kindes etwas sehen (Vorhandensein und Ausmaß einer Herzfehlbildung) und ein 22q111 erahnen, jedoch kann niemand sagen, wie ausgeprägt dieser Gendefekt sein wird – vielleicht läuft das Kind völlig normal und ohne Behinderung, nur mit einer winzig breiteren Nase, durch sein Leben. Oder es wird mit schweren Herzfehlbildungen geboren.
Haben die Eltern Bedenken nach einer genetischen Beratung und einem evtl. vorliegenden Befund, tragen die Ärzte alle Entscheidungen mit: es kann eine Abtreibung nach dem Willen der Eltern durchgeführt werden, bei begründetem Verdacht auf eine schwere Ausprägung des Gendefekts oder das Kind auch ausgetragen werden.
Die meisten Fälle der Mikrodeletion 22q111 sind Einzelfälle (80%). Das heißt, bei den Eltern des Kindes findet man keine solche Störung und daher ist der Gendefekt wahrscheinlich beim Kind völlig neu entstanden (de Novo). Das heißt, dass das Wiederholungsrisiko für weitere Kinder sehr klein ist. Es ist jedoch auch nicht ganz null, weil die Möglichkeit eines so genannten Keimzellmosaiks (ein Fehlen nur in den Samen- oder Eizellen) nicht auszuschließen ist.
Bei 20% der Kinder findet man bei der Untersuchung der Eltern auch eine Mikrodeletion 22q111. Der Erbgang ist autosomal-dominant, d. h. es besteht ein Risiko von 50%, dass die Kinder eines Trägers des 22q11-Defekts diesen auch erben. Niemand kann jedoch eine Aussage machen, welche Symptome auftreten werden und wie stark diese zum Vorschein kommen. Häufig zeigen diese Träger – die aber gesund sind – und nur Träger der Deletion sind, milde Auffälligkeiten im Gesicht (z. B. die Nasenspitze!). Durch diese Diagnose können sich für den Elternteil betroffener Kinder erhebliche Folgen zeigen: Probleme der „Schuldigkeit“, plötzliche gesundheitliche Probleme oder auch versicherungsrechtliche Konsequenzen: „Bevor Sie eine Lebensversicherung oder private Krankenversicherung abschließen wollen, sollten Sie sich nicht molekularzytogenetisch untersuchen lassen“, riet König. Denn wer – vor dem Abschluss einer solchen Versicherung – von einem 22q11-Defekt weiß, kann nicht nachher behaupten, er habe davon nicht gewusst. Nur nach ausführlicher genetischer Beratung sollte deshalb eine solche Diagnostik erfolgen. Aus seiner Erfahrung haben sich bislang etwa die Hälfte der Patienteneltern für diese Diagnostik entschieden.
Auf Initiative der internationalen deutschsprachigen Selbsthilfeorganisation KiDS-22q11 e. V.wurde am Klinikum der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main das erste deutsche symptombezogene Kompetenzzentrum „Sprache“ für Patienten mit Mikrodeletion 22q11 etabliert. Für die Zentrumsgründung und dessen Organisation wählte die Elternselbsthilfeorganisation Professor Sader – Direktor der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie – der bereits aus seiner Münchener und Baseler Zeit über jahrelange Erfahrungen mit dem Krankheitsbild verfügt.