Seit der Erstbeschreibung vor mehr als hundert Jahren wird die Multiple Sklerose (MS) als eine entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS) verstanden, die - wie man bisher dachte - mit einer relativ selektiven Zerstörung der Myelinscheiden einhergeht.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse haben in den letzten Jahren allerdings zu einer veränderten Vorstellung dieser Erkrankung geführt. Denn außer der entzündlichen Entmarkung kommt es zu einem nicht unbeträchtlichen irreparablen Verlust von
Axonen, der sogar teilweise unabhängig von entzündlichen Entmarkungsherden nachgewiesen werden kann. Diese axonalen Schäden sind zudem nicht nur in späten Krankheitsphasen nachweisbar, sondern bereits sehr früh im Verlauf der Erkrankung, bevor die MS-Diagnose überhaupt gestellt wird. Auch in klinisch unauffälligen Phasen ohne MS-Schübe “schläft” die Erkrankung nicht, ein fortschreitender Axonschaden ist nachweisbar. Die Pathogenese dieser axonalen Schädigung ist noch weitgehend ungeklärt.
Anfangs kann das ZNS diese Schäden zumeist noch funktionell kompensieren. Ist jedoch ein bestimmter Schwellenwert des Axonverlustes überschritten, wird die Erkrankung klinisch progredient. Neuere Untersuchungen unterstützen dies, indem sie zeigen, dass das permanente bzw. progrediente neurologische Defizit von MS-Patienten wesentlich stärker durch die axonale Schädigung als durch Entzündung und Entmarkung determiniert wird.
Diese Tatsache hat eine besondere Bedeutung für die Therapie der MS, die im wesentlichen auf die reine Prävention von Entzündung und Entmarkung abzielt, Aspekte der Protektion von Axonen oder Neuronen bisher aber nur wenig berücksichtigt.
Neuere Erkenntnisse aus der neuroimmunologischen Grundlagenforschung weisen zudem darauf hin, dass entzündliche Aktivität nicht nur für negative Effekte im Gehirn wie z. B. Entmarkung oder Nervenzelltod verantwortlich ist, sondern in verschiedenen Modellen sogar neuroprotektiv wirken kann. Therapiestrategien, die allein auf die Aktivität der schädlichen krankheitsverursachenden Entzündungszellen fokussiert sind, würden die möglichen positiven Effekte von neuroprotektiv wirkenden Zellpopulationen unseres Immunsystems blockieren.
Verschiedene Arbeitsgruppen konnten zeigen, dass Immunzellen in der Lage sind, nach ihrer Aktivierung neuroprotektive Faktoren freizusetzen, die axonale oder neuronale Schäden effektiv verhindern können. Um neuroprotektive Faktoren in die Läsionen von MS-Patienten zu bringen und um somit die Axone und Nervenzellen vor Ort schützen zu können, wären Immunzellen ideal, die in das Gehirn und in die MS-Läsionen einwandern und dort neuroprotektive Faktoren freisetzen. Allerdings sollten diese Zellen nicht zu einer pathologischen Entzündungsreaktion mit Entmarkung und Nervenzellverlust führen, wie wir sie von den autoreaktiven krankheitsauslösenden Immunzellen der MS kennen.
Für das seit Jahren eingesetzte Medikament Copaxone (Glatirameracetat) konnte aktuell gezeigt werden, dass die tägliche Injektion zur Induktion von den eben vorgestellten, vor Ort protektiv wirkenden Immunzellen führt. Die Vielfalt des in Copaxone enthaltenen Peptidgemisches hat den Vorteil, dass der Wirkstoff unabhängig vom jeweiligen genetischen Hintergrund bei allen MS-Patienten eingesetzt werden kann.
Es wird angenommen, dass die Glatirameracetat-spezifischen Immunzellen durch die tägliche Verabreichung des Wirkstoffs immer wieder aktiviert werden und somit in der Lage sind, in das Gehirn einzuwandern. Durch Kreuzreaktion mit verschiedenen Gehirnproteinen reaktiviert, setzen die Copaxone-spezifischen Immunzellen vor Ort nicht nur antientzündliche Wirkstoffe (Zytokine), sondern auch neuroprotektive Faktoren wie z. B. den wichtigen Brain-derived neurotrophic factor (BDNF) frei. Da viele Neurone in den MS-Läsionen auf ihrer Zelloberfläche Rezeptoren für neuroprotektive Faktoren wie z. B. BDNF exprimieren, können diese geschädigten Zellen somit direkt von diesen neuroprotektiven Faktoren profitieren.
Als klinischen Hinweis auf einen neuroprotektiven Effekt von Glatirameracetat konnte eine signifikante Reduktion der Entwicklung frischer Läsionen zu permanenten “Black Holes”, die als MRT-Korrelate für irreversiblen Axonverlust gelten, nachgewiesen werden. Diese MRT-Befunde stützen die Validität der klinischen Langzeitdaten, die über acht Jahre eine deutliche positive Beeinflussung der Krankheitsprogression durch Copaxone zeigen.