Nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts waren Ende des vergangenen Jahres 37.000 Menschen in Deutschland mit dem HI-Virus infiziert. Die derzeit auf dem Markt verfügbaren antiretroviralen Medikamente haben dazu beigetragen, der HIV-Infektion ihre tödliche Bedrohung zu nehmen. Für die meisten der derzeit behandelten Patienten bedeutet die Infektion heute vielmehr “nur noch” eine chronische Erkrankung zu haben. Trotz der deutlich verbesserten therapeutischen Optionen, stößt die antivirale Therapie immer öfter an ihre Grenzen. Grund hierfür ist zum einen die stetige Vermehrung des Virus im Körper des Patienten. Hinzu kommt die hohe Mutationsrate der HI-Viren, die dazu führt, dass die Virus-Komponenten, die als Angriffspunkte für die derzeit verfügbaren HIV-Therapeutika dienen, verändert werden. Dies wiederum kann zu Resistenzen führen, welche die Wirksamkeit der antiretroviralen Medikamente vermindern und so einen signifikanten Einfluss auf den zukünftigen Therapieverlauf haben können.
Um der schnellen Entwicklung von Resistenzen gegen die drei zugelassenen Klassen der antiretroviralen Medikamente beizukommen, ist seit der Einführung der Protease-Inhibitoren im Jahr 1995 der Bedarf an HIV-Therapeutika mit neuen Wirkmechanismen stetig gestiegen. Studien haben gezeigt, dass die Substanzklasse der Nukleotid-Analoga die Virusreplikation über längere Perioden hemmt und mit einer niedrigen Resistenzentwicklung assoziiert ist. Somit stellen sie eine langfristige Behandlungsmöglichkeit im Kampf gegen HIV und Aids besonders bei Patienten mit vorhandenen Multi-Resistenzen dar.
Nukleotide sind die natürlichen Bausteine der Nukleinsäuren DNA und RNA- die Quelle aller genetischen Informationen in menschlichen Zellen und Viren. Chemisch veränderte Nukleotide können als “falsche” Bausteine dienen und somit als Therapeutika für menschliche Erkrankungen eingesetzt werden. Für die Replikation benötigt das Virus Nukleotide. Baut es nun einen der chemisch bearbeiteten Bausteine statt eines Natürlichen in die virale DNA oder RNA ein, kommt es zu einem Stopp und somit zu einer Inhibierung der Virusreplikation.
Die Wirkungskraft der Nukleotid-Analoga beruht auf deren Fähigkeit über einen langen Zeitraum in den Zellen zu verweilen und dort selektiv die für die virale Replikation essentiellen Enzyme anzugreifen bzw. mit diesen in Wechselwirkung zu treten. Um diese Enzyme zu hemmen, müssen Nukleotid-Analoga sowie Nukleosid-Analoga nach dem Eindringen in die Zelle erst aktiviert werden. Dieser Aktivierungsprozess ist die sogenannte Phosphorylierung, bei der mehrere Phosphat-Gruppen an die Moleküle gebunden werden, nachdem diese in die Zelle eingedrungen sind. Die als Medikamente eingesetzten Nukleotid-Analoga sind bereits mit der ersten Phosphat-ähnlichen Gruppe “voraktiviert”, das heißt sie können schneller in die DNA-Kette eingebaut werden und somit die virale Replikation behindern. Nukleoside, die nur aus einer Stickstoffbase und einem Zucker bestehen, müssen erst dreimal phosphoryliert werden, bevor sie in die DNA oder RNA eingebaut werden können. Somit dauert es länger bis sie zur Verfügung stehen als bei den Nukleotiden.
Nukleotid-Analoga haben eine außergewöhnlich lange intrazelluläre Halbwertszeit. Diese beruht auf der “Voraktivierung” mit der ersten, einem Phosphatrest ähnlichen Phosphonatgruppe und einer daraus resultierenden negativen Ladung des gesamten Moleküls. Durch die negative Ladung können die Nukleotide nur in sehr geringem Umfang das Zellinnere wieder verlassen; es kommt zur Bildung eines Wirkstoffreservoirs in der Zelle. Auf Grund dieser Akkumulierung müssen die Nukleotid-Analoga nur einmal täglich eingenommen werden, während die Nukleosid-Analoga mehrmals täglich verabreicht werden müssen.
Auf Grund der bereits gebundenen Phosphatgruppe können Nukleotid-Analoga, auch wenn die HIV-spezifischen viralen Enzyme fehlen, in der Zelle schnell aktiviert werden. So können die Nukleotid-Analoga gesunde Zellen schützen und die Virusreplikation in bereits infizierten Zellen stoppen. Im Gegensatz dazu werden die meisten Nukleosid-Analoga erst dann aktiviert, wenn sich die Zelle teilt und dadurch die spezifischen Enzyme gebildet werden, die für die Bindung der ersten Phosphatgruppe an das Medikament benötigt werden. Diese initiale Aktivierung ist oft ein limitierender Faktor für die Aktivierung von Nukleosid-Analoga und anderen antiviralen Wirkstoffen.