Von Rudolf Reiser
Tirol , das ist eine der bedeutendsten Drehscheiben Europas. Die Kaiserwürde und das Christentum, die Idee der Volkssouveränität und der Wein, die Schreib- und Lesekultur, Gesetz und Recht bahnten sich ihren Weg auf dem beschwerlichen Pfad zwischen Auer und Zirl an das „Ende der Welt“, wie der griechische Historiker Herodot um 450 vor Christus das Land jenseits der Alpen nannte. Millionen Touristen, Händler und Soldaten, Tausende von Künstlern, zweihundert Könige und hundert Kaiser überquerten im Laufe der Jahrhunderte den Brennerpaß, die niedrigste Ader (1374 Meter) über den Alpenhauptkamm und eine der großen Wasserscheiden des Kontinents. Heute ken-nen nur noch die Genießer diese alte Straße. Sie steigen gewöhnlich in einem der alten Gasthäuser ab, essen die leckeren Speisen (Speckknödel, Kaiserschmarrn) der Monarchie, bestaunen an den Wänden die Bilder der Kaiserin Elisabeth und Andreas Hofers, hören in der Zechstube Strauß-Walzer und das ewig junge Lied „Innsbruck, ich muß dich lassen“. Hauptattraktion ist zweifelsohne die Europabrücke, deren Wucht man nur von der alten Brennerstraße und deren unmittelbaren Umgebung bestaunen kann. Fast 200 Meter ragt dieses technische Wunderwerkvom tiefsten Sockel im Silltal in die Höhe zur Autobahn. Die Brücke oben mißt 815 Meter und gehört zu den meistfrequentierten unserer Erde. Doch kehren wir wieder zur Vorgängerspur, zur alten Brennerstraße!Wer in Matrei, Gossensaß oder anderswo auf diesem Weg Station macht, wandelt auf großen und grandiosen Spuren der Geschichte. Impressionen!
Das Alpengebirge, das war der Alptraum der Römer seit alters. Als Kaiser Augustus sah, daß die keltischen Stämme sein gewaltiges Reich ernstlich bedrohen können, gab er seinem Stiefsohn Drusus den Befehl, im Norden aufzuräumen. In der Gegend von Bozen/Brixen kam es im Frühsommer 15 vor Christus zum ersten Gefecht, Drusus siegte und zog selbstherrlich durch Tirol. Am 1. August vernichtete er zusammen mit seinem Bruder Tiberius die Kelten. Rom war damit Herrin der Brenner-straße und beherrschte fast ein halbes Jahrtausend das gesamte Nordland bis zur Donau. Wir dürfen nicht vergessen, daß mit dieser Herrschaft das einheimische Keltenvolk zwar unterdrückt, gleichzeitig aber auch von den barbarischen Priestern (Druiden) erlöst wurde. Diese opferten in geheimnisvollen Heiligtümern (Keltenschanzen) Menschen und verschlangen dieselben als Medizin. Das heißt, mit den Römern begann zwischen dem Rhein und Pannonien die Zivilisation, die sich schließlich von hier aus auf Mittel- und Ostgermanien, Skandinavien, das Slawenvolk und das weiteRussenreich ausbreitete.
Wie die Römer reisten, zeigen noch heute Exponate des Landesmuseums Tirol in Innsbruck. Archäo-logen hatten dort nach dem Fundmaterial einen römischen Wagen rekonstruiert. Einen Eindruck davon, wie beschwerlich dieFahrten von Süd nach Nord und umgekehrt waren, erhält man bei der Besichtigung der steinigen Fahrrinne im bayerischen Klais am nördlichen Ende der Brennerstraße.
Im Zuge der Entfaltung erster Ansätze von Humanität und Rationalität gelangte auch das Christentum von Rom in den Norden Europas. In Sterzing ist noch heute ein großer Kultstein (um 200 nach Chri-stus) mit dem jugendlichen Gott Mithras zu bewundern. Seine Anhänger glaubten, daß seine Geburt am 25. Dezember von Hirten beobachtet wurde. Von ihm sagte man, daß er starb, wieder von den Toten erweckt wurde und als Richter über die auferstehenden Menschen auftritt. Bezeichnet wurde er als Heiland, man taufte in seinem Namen und in feierlichen Kultmählern trat man mit ihm in Verbindung (communio). Viele römische Soldaten huldigten diesem Gott, und der Sterzinger Stein zeigt, über welche Schiene sich der Kult nach Norden ausbreitete. Über Tirol.
Da Mithras viel mit Christus gemeinsam hatte, wurde die Ausbreitung der neuen Religion ungeheuer erleichtert. Nach dem Sturzdes Weltreiches zogen dann über den Brenner unermüdlich die Missio-nare Roms. Ihre Spuren sind noch heute zu sehen. Überall am Rande der Paßstraße entstanden Peterskirchen, soin Brixen, Stilfes, Sterzing, Tschöfs, Mützens, Ellbögen, Götzens, Telfs, Scharnitz und am Ende in Mittenwald. Der Papst regelte somitmit der Petersverehrung die Zuständigkeit und Abhängigkeit in der neuen Glaubensgemeinschaft, so ganz nach dem Motto: Wer den heiligen Petrus verehrt, ist auch seinem Nachfolger verpflichtet, also keinem König oder sonstigem Häuptling. In dieser Phase begann sich auch ein reger Gegenverkehr zu entwickeln. Bischöfe, Herzöge und Mönche zogen von jetzt an ständig über den Brenner nach Rom. Berühmteste Person war eine Frau. Die Regensbur-ger Prinzessin Theudelinde, die im Mai 589 über Innsbruck, Gries und Brixen nach Verona ritt, um dort am 15. Mai den Langobardenkönig Authari zu heiraten und machtvolle Herrscherin in Italien wurde.
1300 Jahre später, im Sommer 1888, legte der Rose-Wirt in Gries am Brenner ein Gästebuch an. Da-nach übernachteten bei ihm auf ihrer Reise von Nord nach Süd Menschen aus Petersburg, Rotterdam, Berlin, London, Stockholm, Hamburg, Schwerin, Göteburg, Kopenhagen und Breslau (um nur einige Städte zu nennen). Vom Süden kamen Italiener und Griechen. Die Berufe der Grieser Gäste: Maler, Minister und Musiker, Fabrikanten und Poeten, Studenten und Stiftsdamen, reiche Witwen und Wis-senschaftler. Auch Goethe war in Gries. Am 8. September 1786 kurz vor 18 Uhr setzte er sich auf einen Stein und zeichnete den Gasthof. Am 25. Oktober 1580 zog der große französische Philosoph Montaigne vorbei, am 19. Dezember 1769 Mozart, am 4. Dezember 1840 der dänische Märchendichter Andersen, am 7. August 1828 Heinrich Heine, Mitte August 1876 Norwegens großer Dichter Ibsen (der gern in Gossensaß Urlaub machte), Anfang April 1913 der Erfinder der Atomspaltung, Otto Hahn, 1665 Königin Christine von Schweden, 1688 Deutschlands größter Wissenschaftler, Leibniz. Von der anderen Seite kamen die Päpste Pius II. und Pius VI. und die KomponistenDonizetti (1843), Wolf-Ferrari (1892), Leoncavallo (1894), Mascagni (1896) und Puccini (1922).
Eines Passanten ist aber besonders zu gedenken: Albrecht Dürer. Er fuhr Anfang Oktober 1494 das erstemal durch Gries. Als er aber im Spätsommer 1505 abermals durchkam, hatte er die erste Landkarte der Welt in der Tasche. Angefertigt hat sie der Nürnberger Etzlaub 1501. Und auf diesem Blatt sind Innsbruck, Matrei, Sterzing und Brixen eingezeichnet. Den Brenner markiert ein dicker Gebirgsstrich. Der Brenner! Die meisten Reisenden stellten ihn sich als Gipfel mit wunderbarer Aussicht vor. So schrieb im vorigen Jahrhundert der bayerische Dichter Steub: “Auf dem Brenner ge-wahrte man wieder die gewöhnliche Enttäuschung der gewöhnlichen Reisenden, welche immer den Glauben mitbringen: hier auf dem hohen Uebergang von Deutschland nach Italien müsse man einer-seits bis an den Böhmerwald, andrerseits bis an den Apennin aussehen.”
Die idyllische Einöde von einst wich von 1919 (als Südtirol endgültig zu Italien geschlagen wurde) biszur Öffnung der Grenzen und der Einführung des Euro der rauhen Wirklichkeit einer kalten Polizei- und Zollstation. Fast schon vergessen nunmehr die scharfen und oft menschenunwürdigen Kontrollen und Provokationen! Vergessen die Lira und Mark, die frequentierten Wechselstuben, die Schmuggler, langen Staus undSchimpfwörter auf beiden Seiten!
Heute ist der Ort Brenner ein beliebter und gelobter Delikatessenmarkt mit Spezialitäten aus den Regionen Tirol, Trentino und Toskana. Dazu ein Ausgangspunkt in das von der Sonne verwöhntere Südtirol – und für die Italienheimkehrer nach den täglichen Spaghettigerichten „der erste Ort der ersten Griesnockerlsuppe“, wie sich eine Wirtin am nahen Brennersee einmal ausdrückte. Natürlich fällt beim Bummel durch Brenner der Hinweis auf Goethe auf.”Von hier fließen die Wasser nach Deutschland und nach Welschland”, schrieb er in sein Tagebuch. Der Wirt hat ihn wahrscheinlich 1786 auf diese Tatsache hingewiesen. Dieser überraschte nämlich laut Goethe immer wieder seine Gäste mit der Feststellung, sein großes Haus habe zwei Dachrinnen. Ein Abfluß strebt der Adria zu, der andere dem Schwarzen Meer. Das trifft auch derzeit noch zu. Es geht um wenige Meter. Als vor einigen Jahren, so erzählte der Grieser Rose-Wirt , am Brenner ein Unwetter herrschte und Muren ins Tal stürzten, wurde der natürliche Fluß der Eisack beeinträchtigt. Das Wasser floß eine Zeit lang nach Norden und bewies so recht eindrucksvoll das Prädikat Tirols: Drehscheibe.