Alten Erzählungen nach muss sie wunderschön gewesen sein: Die „Türkische Zeltstadt“, eine Ansammlung bizarr geformter Seracs am Gletscherende im Obersulzbachtal im Nationalpark Hohe Tauern. Heute findet man davon nicht mal mehr Reste. Aber den Venediger, dieses Prachtexemplar der Hohen Tauern, den gibt es immer noch. 3666m hoch über dem Meeresspiegel ragt er in Pyramidenform gegen Himmel, zieht die Bergsteiger geradezu magisch an und zeigt sich ihnen leider nicht immer. Bestiegen wird er meist von Norden über das Obersulzbachtal und die [Kürsingerhütte; von Süden führt das Villgratental zur Johannishütte und von Osten geht es über Innergschlöss zur Neuen Prager Hütte und von dort auf den Gipfel.
Der Nationalpark Hohe Tauern feiert dieses Jahr seinen 30. Geburtstag und kann damit auf eine der längsten Geschichten unter den Nationalparks im alpenländischen Raum zurückblicken. Mit Großvenediger, Großglockner und weiteren über dreihundert Ehrfurcht gebietenden 3000ern, bietet er eine alpine Auswahl, die jedes Bergsteigerherz höher schlagen lässt. Natürlich vor allem jenes der Hoch-Touristen…aber auch Freunde des Wanderns finden hier ihr Eldorado, und haben die Qual der Wahl zwischen Trekkingtouren, Hüttenwanderungen oder „nur“ Blumen-und Kräuterspaziergängen mit einem Nationalparkranger.
Ein wenig gründlicher sollte sich vorbereiten, wer auf den Gipfel des Großvenediger möchte. Zwar gilt dieser, alpinistisch betrachtet, als “leichte” Hochtour, doch beinhaltet der Aufstieg immer eine mindestens zweistündige Gletscherbegehung, sowie eine ausgesetzte und für ihre Schneewächten berüchtigte Gratwanderung unmittelbar unterhalb des Gipfels. Wer also ohne Handschuhe oder Steigeisen anrückt, kann, wie in unserer Gruppe geschehen, von Glück reden, wenn der Bergführer ein weiteres Paar Fingerlinge im Rucksack hat…
Der Weg der Erstbesteiger, unter Führung des Pflegers Ignaz von Kürsinger , (welcher den Begriff der ” weltalten Majestät” prägte), führte vom Weiler Sulzau, der heute zur Gemeinde Neukirchen gehört, durch das Obersulzbachtal hinauf in die Gletscherregion.
Noch immer ist der Anstieg von Nordwesten mit knapp 5 Stunden Gehzeit ab Hütte bzw. 7 -8 Stunden ab Sulzau (Parkplatz Hopffeldboden) auch die längste Route - die wilde Schönheit des Obersulzbachtals mit seinen herabstürzenden Wasserfällen und lauschigen Almen (Berndlalm, Postalm,) mit seinen pfeifenden Murmeltieren und flinken Gamsen und der zumeist sanfte Gletscheranstieg machen ihn jedoch ohne Frage zu einem der schönsten Wege - allemal 2011, im 170. Jahr der Erstbegehung!
Dank dem ” Venediger-Taxi” kann der ambitionierte Gipfelstürmer heutzutage jedoch den kilometerlangen Fußmarsch der Erstbesteiger durch das Obersulzbachtal abkürzen und wird gegen eine - recht stolze, wie wir finden - Gebühr von aktuell € 16.– pro Fahrt & Person zur Materialseilbahn gebracht (Spaß macht´s auch mit dem Mountainbike!). Von dort erfolgt im Sommer der circa eineinhalbstündige Aufstieg zur Hütte über den “Klammlweg”, eine mit Drahtseilen versicherte Wanderstrecke, welche im ersten steilen Stück den Besucher ordentlich ins Schwitzen bringt. Über sanft herab plätschernde Bäche hinweg und immer begleitet von den Rufen der wachenden Murmeltiere windet sich der Weg schließlich zur Kürsinger Hütte mit ihren 150 Schlafplätzen. Diese dürfte eine der ganz wenigen im Alpenraum sein, wo die Waschräume durchgehend beheizt sind - die Hütte verfügt über ein eigenes Wasserkraftwerk, welches anlässlich ihrer Erbauung im Jahr 1875 eingerichtet wurde.
Auch ansonsten ist die “Kürsinger” gut für Überraschungen und Einzigartigkeiten - so beherbergte die Hütte 2011 das Kunst-Projekt ” See you” des Salzburgers Hannes Egger, durch welches erstmals Venedig tatsächlich sichtbar wird vom Gipfel des Großvenedigers. Entgegen der landläufigen Vorstellung kann man die Lagunenstadt nämlich unmöglich von dort aus erblicken - ein physikalisches Gesetz und Resultat unserer Erdkrümmung. Der wahre Ursprung des Namens “Großvenediger” ist zwar nicht eindeutig belegbar, dürfte jedoch in Zusammenhang mit Kaufleuten und Händlern aus Italien bzw. Venedig stehen, welche das Salzburger Land über die Venedigergruppe erreichten. Um dem Berg um seinen Namen verdient zu machen, überträgt nun im Projekt “See you” eine Kamera in Echtzeit Bilder aus dem österreichischen Pavillon der 54. Biennale di Venezia auf die Kürsinger Hütte ; der smartphone-versierte Bergsteiger kann sich diese auch noch vom Gipfel aus zu Gemüte ziehen.
Doch eigentlich geht auf den Großvenediger, wer Ruhe vom Blackberry und neuen Kommunikationsmedien haben möchte. Dieses Versprechen wird am besten eingelöst beim Aufbruch am zweiten Tag der Besteigung. Um fünf Uhr in der Früh schluckt der dichte Nebel noch alle Geräusche bis auf das entfernte Tosen des Gletscherbaches, und in der kalten Luft konzentriert sich der Geist ganz auf den eigenen Atem und den nächsten Schritt im Licht der Stirnlampe. Anfangs noch über leichtes Blockgelände, ist nach einer Stunde bald der Anseilpunkt am Ende des zwar geschrumpften, aber immer noch mächtigen Gletschers erreicht. Dieser steigt zwar nur mäßig an, dafür sind gleich zu Beginn einige nicht unzahme Spalten zu überqueren, welche später beim Abstieg in wärmerer Temperatur noch mehr Überwindung erfordern werden…Nach einer Weile gelangt man immerhin in Gebiete mit mehr Restschnee und sieht die größten Klüfte unter einem nicht mehr. Ebenso verhält es sich bei unserer Tour auch mit dem so gefürchteten Gipfelgrat - Nebel links, Nebel rechts, und nur eine Ahnung vom Abgrund erleichtern diesen letzten Weg ungemein. Und dann ist er erreicht, der Gipfel, und die Wolken reißen kurz auf, und es ist blau und weiß und einfach schön! Als uns kurz danach beim Abstieg sogar noch die Sonne kitzelt und schließlich schwitzen lässt, ist unsere Traumtour perfekt.
Dennoch ist diese im Nachhinein nicht zu unterschätzen, und wir sind heilfroh, einen einheimischen, ortskundigen Bergführer, wie Hanspeter Breuer, dabei zu haben. Hanspeter ist ein richtiges Neukirchner Original, 29 Jahre jung und schon hoch geschätzt von Gästen und Kollegen gleichermaßen. Er bringt uns nicht nur bei, wie man einen Schmetterlingsknoten als Bremsmittel im Seil knüpft, und dass es ein paar Müsliriegel als Wegproviant auch tun (Speck, Brot & Parmesan bleiben von nun an zuhause!), sondern vermittelt uns durch seine Anekdoten und die gemütliche pinzgauerische Aussprache auch das Gefühl, wenigstens durch unseren Führer ein Stück Fremdheit in dieser wunderschönen Gegend zu verlieren. So lässt es sich rundum sorglos auf den dritthöchsten Gipfel Österreichs steigen. Ein einzigartiges Ziel, welches jeder, dem die Berge am Herzen liegen und der mal ein bisschen Eis unter seinen Füßen knarzen hören will, einmal erlebt haben sollte. … Und als Nächstes? Großglockner, wir kommen!
“Wo der Rettenstoa mächtig den Venediger grüßt, wo die Salzach jahrein jahraus durchs Tal ‚obifließt‘… bin ich daheim”. Diese Strophen aus einem alten Pinzgauer Lied gingen unserer Redakteurin durch den Kopf auf dieser Tour zur weltalten Majestät hinauf. War die Idee der Großvenedigerbesteigung doch für sie persönlich fast ein Heimspiel - auf den Spuren einer Großmutter, die vor über 60 Jahren natürlich auf diesem Hausgipfel der Pinzgauer zu Besuch war! Das Kürsinger-Hüttenbuch mit ihrem Eintrag von 1947 liegt mittlerweile allerdings im Archiv in Innsbruck.
FAZIT: die Großvenediger-Besteigung im Sommer ist ein immer währender Klassiker. Der Aufstieg aus Salzburg aus empfiehlt sich nicht nur landschaftlich und historisch, sondern ist auch deutlich weniger begangen als die Tiroler Zustiege mit ihren Alpenvereins-Touren-Stützpunkten. Nicht zuletzt ist das Paketangebot des Neukirchner Bergführerbüros (aktuell €159.- inklusive Bergführer, Hüttentaxi, Übernachtung und Halbpension) eine günstige Alternative gegenüber vergleichbaren Angeboten großer Reiseanbieter.