Unaufhörlich bringt und vertreibt der kretische Wind - heute von Seefahrern und Piloten gefürchtet - die Kulturen der Menschheit: Minoische Paläste, mykenische Sitten aus dem Peloponnes, griechische Mythologie in den zwei Jahrtausenden vor Christus. Hier wird Zeus geboren, der Gigant des Südens. Genau am Fuße des Psiloritis (2456 Meter), also schon im Westteil der Insel, den am Ende Kretas nach der beginnenden Entmachtung des Göttervaters der heilige Paulus auf seiner Romreise streift. Über ihm thronen die Weißen Berge (2452 Meter), deren wunderbares Umland in den kommenden zwei Jahrtausenden zum Aufmarschgebiet der späten Römer, Byzantiner, Araber, Venezianer, Türken, Ägypter und schließlich der Deutschen im Zweiten Weltkrieg wird. Überall Spuren der meist brutalen Besatzer!
Kennen Sie Georgioupolis und sein Umland? Wenn ja, dann legen Sie diesen Bericht beiseite. Die Feder des Verfassers vermag nämlich nicht, diesem Stück Erde gerecht zu werden. Sollten Sie es noch nicht besucht haben, dann wird es Zeit. Deshalb zu Anfang der Satz: In den Weißen Bergen und im blauen Meer, den Nationalfarben Griechenlands, spiegelt sich ein irdisches Paradies und eine Geschichte um Gottvater, schöne Frauen und Verbrecher, die welteinmalig ist.
Gewohnt wird in einer fabelhaften Ferienanlage (Pilot Beach Resort) am Meer und Küstencorso, wo sich griechische Küche und Keller von ihrer besten Seite zeigen, wo man vom einfachen Zimmer bis zur Suite alles haben kann, wonach dem Gast gerade ist und was sein Geldbeutel erlaubt. Pools und Parkplätze sind genügend vorhanden, Busstationen vor der Türe. Den Zauber der Anlage (450 Bungalows auf 150 000 Quadratmeter) steigert das Ambiente: Ein zehn Kilometer langer Sandstrand mit vielen Möglichkeiten zur Einkehr und eine phantastische Sicht auf europäische Schicksalsberge.
In wenigen Minuten erreicht man auf Sandstrand oder Straße den eigentlichen Ort Georgioupolis, dessen neugotische Kirchtürme in das Ferienparadies grüßen. Auch im Ort selbst kann man absteigen, die neue Uferpromenade hat man soeben vollendet. Überall Geschäfte und Gaststätten, in denen die köstlichen Fische aus dem nahen Kournas-See (einziger See auf Kreta) genauso serviert werden wie Meeresfrüchte. Man schenkt in den Kneipen Bier aus halb Europa aus und reicht frisches Obst. Wir landen in einer Bar (Risko), in der ein Bücherschrank steht (Ausleihe an Urlauber) und die zwei deutsche Frauen aus Hamburg und Landshut leiten.
Die Hamburgerin ist mit einem lustigen Kreter verheiratet, der das Zapfen des Biers (Mythos) zum Kult macht. Und wenn dann abends die Zahl der Gäste allmählich abnimmt, erzählt Hanna schon mal von ihrem bewegten Leben und den Ereignissen in ihrer neuen Heimat. Was hier sofort in die Augen sticht, sind an den Straßenrändern die vielen Modellkirchen. „Eikonostasi” heißen sie, klärt Hanna auf. Sie erinnern an die Verkehrsopfer. Tatsächlich hören wir viel Polizei-Sirenen. Manche Kreter fahren in der Tat kriminell schnell und riskant, einmal erleben wir inmitten des Zivilverkehrs sogar ein Autorennen.
Erschreckende Geschichten werden am Fuß der Weißen Berge erzählt, besonders auf der Fahrt über Vrisses zum Hafen von Chora Sfakion. Vorbei an Wiesen aus dem Malkasten Gottes steuern wir unser Leihauto über unwegsames Gelände und Ziegenweiden unter steilen Abhängen. Viele Ortschilder sind durchlöchert. Sie werden als Schützenscheiben der waffentragenden Jugend angesehen, vernehmen wir schon etwas sehr irritiert. Nach der Allgemeinen Encyklopädie (Leipzig 1886) erleben wir gerade das „am wenigsten zugängliche Gebirge, welches besonders in der sogenannten Sphakia den Hauptherd der vielen Empörungen bildete”.
Hier beschließen am 2. September 1866 die von den Türken unterdrückten Kreter die Vereinigung mit Griechenland. „Freiheit oder Tod” heißt die Parole. Und als kurz darauf die Türken in das am Fuße des Psiloritis gelegene Wehrkloster Arkadi besetzen, läßt es der Abt angesichts der Übermacht des osmanischen Heeres in die Luft sprengen. Knapp tausend Christen und rund 1500 Besatzer werden in den Tod gerissen. Da die Fremdlinge nunmehr den sich verstärkenden Widerstand spüren, gewähren sie den Einwohnern einige Zugeständnisse. Die Sphakia selbst können sie jedoch zu keiner Zeit unterwerfen.
Sphakia ! Hier vollbrachte die Natur ihr Meisterwerk, das den Schutz der Götter gegen die stärksten Feinde genießt. Der olympische Zeus wurde unter dem Psiloritis in einer Höhle geboren. Durch eine List seiner Mutter Rhea überlebte er die Mordabsichten des Vaters Kronos, die Ziege Amalthea zog ihn auf und zum mächtigsten und prächtigsten Gott der Antike heran. Hierher entführte dieser aus Asien die schöne Königstochter Europa, der er Gold schenkte und sie ihm drei Söhne (darunter Minos). Homer pries „das Land im dunkelwogendem Meere”, kurz nach ihm die griechische Dichterin Sappho: „Vom Himmel steige hernieder, hierher zu mir aus Kreta.” Apostel Paulus segelte auf seiner Fahrt nach Rom exakt am Hafen Chora Sfakion vorbei an die Westflanke der Insel. Dort, wo das Land „offen gegen Südwest und Nordwest” (Apostelgeschichte 27,12) ist, kommt sein Schiff nahe an die Küste. Er setzt offensichtlich hier am Westzipfel seinen Genossen Titus ab. Ein Kreter, so schreibt ihm später Paulus, habe selbst gesagt: „Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche” (Paulus 1,12).
In Chora Sfakion, einem herrlichen Ort, an dessen Ufer Freiluft-Restaurants den Gast verwöhnen, dreht sich das Blau des Meeres ins Türkise. Von hier fährt man mit dem Schiff zu einem der Topmagnete der Insel, zur Samaria-Schlucht, eine der längsten in Europa (heute Nationalpark). Prächtige Natur auch in Frangokastello auf der anderen Seite von Chora Sfakion. Bekannt und geschätzt der Strand, der zu den kleinsten aber schönsten Kretas zählt! Die Festung dahinter bauen im 14. Jahrhundert die venezianischen Besatzer. Heute innen total zerstört!
Frangokastello, das genauso am Canal grande Venedigs stehen könnte, ist heute eines jener Symbole, das an die so blutige Geschichte Kretas erinnert, an den Kampf der Einheimischen gegen fremde Regenten und Religionen. Dieser dauert auch nach dem niedergeschlagenen Aufstand 1866/67 und türkischen Zugeständnissen fort und eskaliert immer wieder. Bis 1897 ein griechisches Corps mit 2000 Mann bei Chania anlegt und im Namen seines Königs von der Insel Besitz ergreift. Sofort besetzen daraufhin die Großmächte mit türkischem Einverständnis die Stadt Cania. Straßenkämpfe von unvorstellbaren Ausmaßen sind die Folge. Viele Engländer werden getötet, endlich sehen die Türken ein, daß Kreta nicht mehr gehalten werden kann. Zum neuen Herrscher ruft man den Königsohn Georg von Griechenland aus, nach dem die eingangs erwähnte Stadt Georgioupolis benannt wird.
Sein führender Politiker ist der Rechtsanwalt und Rebell Eleftherios Venizelos, der 1864 in einem Vorort von Chania geboren wurde. Ein energischer Patriot, heute Griechenlands Idol, nach dem der Flughafen von Athen benannt ist. Sein Grabmal hoch über Chania zählt zu den nationalen Heiligtümern, über dem die weißblaue Fahne der Griechen ebenso flattert wie auf der Akropolis Athens. Neben ihm ruht sein Sohn Sofokles Venizelos (1894 Chania), der bis kurz vor seinem Tod 1964 mehrfach griechischer Ministerpräsident und Außenminister war.
Chania, welcher Zauber! Agios Nikolaos flankieren heute ein Turm der Christenheit und ein Minarett. Man steht vor diesem Bauwerk und versteht die Welt nicht mehr. Warum kann nicht jeder die Gefühle des Mitmenschen achten? Warum muß sich Religion in Politik einmischen? Die Christen sind da bei Gott keine Unschuldslämmer. Venizelos wird sogar exkommuniziert, weil er als Demokrat das tut, was er für richtig hält. Wir schlendern durch seine Heimat, an allen Ecken und Enden denken wir an ihn.
Er ist verwandt mit dem Großvater von Mikis Theodorakis (1925 auf Chios), dem Komponisten und Freiheitshelden. Sein Vater erblickte im Vorort Galata das Licht der Welt, und der weltberühmte Sohn bezeichnet sich selbst als einen Kreter. In Chania, der Inselhauptstadt (von 1645 bis 1972), amtiert zwei Jahre lang Venizelos als Justizminister unter Prinz Georg. Seine Haushälterin stammt aus Georgioupolis, aus dem Nachbarhaus der Risko-Wirtinnen aus Hamburg und Landshut.
Die Töchter Chanias werden schon immer als tüchtige Köchinnen gepriesen. Die vielen idyllischen Restaurants legen davon noch heute Zeugnis ab. Selten erlebt man eine Stadt mit so zauberhaften Lokalen, die sich über Innenhöfe und am Hafen ausdehnen. Man sieht viele junge Leute, die sich genauso geben und kleiden wie die in Stuttgart und Sevilla. Natürlich werden köstliche Fischgerichte serviert und griechische Weine und Uso kredenzt.
Längst ist im Westen der Insel der Typ der jungen Frauen ausgestorben, den noch der große kretische Dichter Nikos Kazantzakis (1883 Heraklion) in seinem Weltklasseroman Alexis Sorbas beschreibt. Sie gingen einst beim Anblick eines Fremden „vom Scheitel bis zur Sohle in Abwehr über”. Und der Dichter, nach dem der Flughafen seiner Heimatstadt benannt ist, fährt fort: „Uralte Instinkte schlugen in ihnen Alarm.” Piraten raubten nämlich in der Vergangenheit „Frauen und Kinder, fesselten sie mit ihren roten Gürteln, warfen sie in die untersten Schiffsräume und zogen wieder ab, um sie in Algier, Alexandria oder Beirut zu verkaufen”. Wenn sich auch heute die Mädchen nicht mehr fürchten müssen, so triefen doch die Ereignisse von einst aus allen Ritzen der Wohnhäuser, Kirchen und Moscheen. „Auf der kretischen Erde”, so urteilt Kazantzakis, „hat jeder Stein, jeder Baum seine tragische Geschichte.” Vor allem in Cania, möchte man ergänzen, wo man das Jahr 1941 noch immer in Erinnerung hat. Im Mai landen dort die deutschen Fallschirmspringer. Rund 5000 werden noch in der Luft abgeknallt. Der Menschenverlust ist ungeheuerlich, wovon noch heute die Soldatenfriedhöfe zeugen. „Chania und die Häfen ostwärts davon werden genommen”, lesen wir zum 27. Mai im Kriegstagebuch des deutschen Generalmajors Heusinger. Zum 1. Juni 1941 heißt es: „Nach schweren Gebirgskämpfen die letzten feindlichen Kräfte (Engländer) bei Sfakia geschlagen.”
Doch jetzt beginnt der Widerstand, mit dem die Besatzer in den unwegsamen Bergen nicht fertig werden und die deshalb Frauen und Kinder an die Wand stellen und abknallen. „Erregte der heroische Kampf Kretas gegen die Nazis die Bewunderung der ganzen Welt”, schreibt später die griechische Freiheitskämpferin und Schauspielerin Melina Mercouri (1925 Athen) in ihren Memoiren (Ich bin als Griechin geboren). Rund um die Weißen Berge sieht man noch heute kleine Museen und Gedenkstätten, die auf die Brutalität der Deutschen hinweisen. „Feindschaft, nein Feindschaft gibt es nicht gegen Deutsche, die heute Lebenden können nichts dafür”, hören wir tief betroffen.
Die Mini-Museen unter den Weißen Bergen zeigen all die scheußlichen Relikte Made in Germany. Man sollte eines wenigstes ansehen. Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht meistern. Und dieser Satz hat natürlich auch Gültigkeit bei den Besuchen des grandiosen Archäologischen Museums (ehemals Franziskanerkirche) mitten in der Innenstadt Chanias. Hier zeigen nackte Göttinnen und Göttergespielinnen auf Mosaikböden und in Marmor ihre prächtigen Körper, magere und bärtige Kaiser schauen ernst und träumend die Besucher an. Man weiß heute, daß die Imperatoren die Prototypen der Päpste sind und die Venus die Vorlage für die heilige Katharina liefert. Insofern dürfen sich die Repräsentanten der antiken Heilslehre wundersam und -bar in den christlichen Kirchenschiffen geborgen fühlen. Nur der türkische Brunnen im Museumshof erinnert an eine fürchterliche Zeit. Die Byzantinische Sammlung in der ehemaligen Salvatorkirche zeigt ein frühchristliches Mosaik mit dem Hirschen als Symbol Christi.
Nach soviel Spitzenexponaten tauschen wir am Hafen alte Mythologien mit frischem Mythos-Bier. Hier also gingen Männer aus halb Europa an Land, um zu handeln, rauben, töten oder missionieren. Laut der Leipziger Allgemeinen Encyklopädie (1886) ist er „der wichtigste Hafen der ganzen Insel mit Citadelle, Arsenal und Docks”. Von hier aus setzt Venizelos der Ältere nach Athen über, wo er 1910 griechischer Ministerpräsident wird und von nun an dem Land das wieder gibt, was es seit Perikles und Sokrates verloren hat - die Identität. Er verliert mehrmals seine hohe Position, tritt zurück, verdirbt es sich mit der Kirche, geht ins Exil und gebietet 1924 und von 1928 bis 1933 letztmals über Griechenland. Auf seinem Schoß sitzt oft ein kleines Mädchen, dessen Großvater Bürgermeister von Athen ist, die bereits erwähnte Mercouri. „Ein hervorragender Mann”, schreibt sie über Venizelos. „Er reorganisierte den Staat, er schuf das Griechenland der zwei Kontinente und der fünf Meere, er gab Griechenland das Selbstbewußtsein zurück.”
Hier im Hafen Chanias verließ er seine Heimat, hier trifft Mikis Theodorakis zum Besuch der Heimat des Vaters ein. Hier in Chania wird 1952 Ioanna Karystiani geboren, die kretische Dichterin unserer Zeit. In ihrem Roman Schattenhochzeit lebt ihre Heimat wieder auf, so wenn sie das Arbeitszimmer eines Rechtsanwalts beschreibt, in dem man vorfindet: „Ein poliertes Holzrelief der Insel Kreta, die gewienerten Hörner eines kretischen Steinbocks, ein Brustbild von Eleftherios Venizelos.” Der aus Chania gebürtige Politiker schloß 1930 einen Freundschaftsvertrag mit der Türkei, mußte fünf Jahre später fliehen und starb 1936 in Paris.
Schon sehr nachdenklich verlassen wir die Bar am Hafen von Chania. Es dämmert schon, die Abendsonne scheint auf den ägyptischen Leuchtturm (um 1850), die Janitscharenmoschee (ältestes türkisches Bauwerk der Stadt) und die venezianischen Arsenale, die einmal 40 Galeeren Schutz bot. Auf dem Weg in die Stadt stehen wir plötzlich vor Agios Nikolaos, wo die türkischen und venezianischen Besatzer die kretischen Freiheitskämpfer hinrichteten, unter anderen 1821Melchisedek, den Bischof von Chania. Auf dem Weg nach Georgioupolis kommt wieder der berüchtigte kretische Wind auf und fegt unser Grübeln über Morde, Moscheen und Massaker hinweg.
Griechische Zentrale für Fremdenverkehr (EOT): Internet: www.gnto.gr
Hinweise: Wer den Westteil Kretas erschließen und dabei noch baden will, braucht mehrere Wochen, so schön und abwechslungsreich ist er. Eine Fahrt ins Landesinnere macht immer wieder Staunen. In jedem Fall rentiert sich noch ein Besuch des Hafens Rhetymnon und der Stadt Spilli (Heilquellen). Auf Kreta sollte man für einige Tage einen Leihwagen mieten (im Hotel Pilot Beach Resort jederzeit möglich).