An jeder Straßenecke stoßen wir auf die drei göttlichen Tugenden: Glauben darf man hier weder den Taxifahrern und bettelnden Mönchen, den Obstverkäufern und Obern. Das Hoffen ist den Neapolitanern schon deswegen angeboren, weil sie täglich den Tod in Gestalt des Vesuv vor Augen haben. Und lieben wird hier jede und jeder alles, was einer, einem so begegnet. Die Menschen hier sagen ungern No zu den Genüssen und Gelüsten dieser Erde. Ob man im Dampfer oder Luftschiff ankommt, man sieht sofort: Neapel ist eine Besonderheit. Meer und Vulkan bilden für dieses ungewöhnliche Stadtbild einen phantastischen Rahmen. Dazu die Menschen, die ihre Heimat für ein Stück Himmel halten, das zur Erde gefallen ist.
„Vedi Napoli poi Muori”, lautet ein gängiges Sprichwort, das die Deutschen übersetzen mit: „Neapel sehen und sterben.” Muori heißt natürlich sterben, doch in diesem Fall ist die bei Neapel gelegene Ortschaft gleichen Namens (Muori) gemeint. Somit richtig: „Du siehst Neapel und dann erst Muori.” Sinngemäß soll damit gesagt werden: Die Umgebung der Stadt ist zwar sehr schön, doch Neapel selbst noch tausendmal schöner. Und einmalig, möchte man ergänzen!
Hier ist die Heimat des weltweit bekanntesten Eßgerichts (Pizza) und des populärsten und meistgesungenen Liedes unserer Erde (O sole mio), Sitz der ersten staatlichen Universität überhaupt (1224 von Stauferkaiser Friedrich II. gegründet), Hinrichtungsort des letzten Staufers (Konradin, 1268). Alles eben eine ungeheure Geschichte, die Tyrannen und Thronprätendenten, Eroberer und Erzbischöfe schreiben. Franzosen und Spanier herrschen hier ebenso wie Augustus und Marie (*1841 Possenhofen), die Schwester der österreichischen Kaiserin Elisabeth (Sissi). In Neapel werden geboren die Komponisten Cimarosa (1749) und Leoncavallo (1858) und er alles überragende Tenor Caruso (1873). Hier findet der große römische Gelehrte Vergil (*70 Andes bei Mantua) im Jahr 19 vor Christus seine letzte Ruhestätte. Ebenso der Dichter Leopardi (*1798 Recanati) und der Komponist Scarlatti (*1660 Palermo). Und auch das gehört zur Historie: Gegründet wird die Stadt einer alten Legende nach von einer Sirene (halb Mädchen, halb Vogel) mit dem Namen Partenope.
Die Preislieder auf die Stadt füllen Bücher. Lauschen wir der Hymne des dänischen Märchendichters Andersen (*1805 Odense): „Napoli, du weiße sonnenbeschienene Stadt. Das Menschengewimmel mit Gesang und Geschrei ist der Lavastrom in deinen Straßen.” Goethe (*1749 Frankfurt) spricht gar vom „südlichen Paradiese”. Dann läßt er uns raten, was für eine Bewandtnis es mit einer „schönen Frau, vom Monde beleuchtet” hat. Die Stadthistorie wird bestimmt von wilden Geschichten und Gerüchten, von alten Sagen und neuen Klagen, von schönen Damen und Liebesdramen. Hier der Königspalast, in dem das adrette Kammerfräulein das Gemach des Hausherrn von innen abschließt, dort die Kellerlöcher, in denen die Revolutionäre an Eisenketten geschmiedet sind. Wir hören von dem legendären Gourmet Lukullus (*um 117 vor Christus), der möglicherweise hier geboren wird, mit Sicherheit aber wohnt, und von Garibaldi (*1807 Nizza)), vor dem 1860 das Königspaar flieht und sich die Menschen verneigen. Wir lauschen dem Italienkenner Gregorovius (*1821 Neidenburg), der Napoli für die schönste Küstenstadt hält, da sie sich eines „klassischen Amphitheaters der Natur” rühmen könne. „Die Farbenpracht, die Größe und Weite dieses Gemäldes ist wohl ohne Gleichen in der Welt”, schreibt er.
Die Stadt steht heute, man möchte es nicht glauben, auf einem unterirdischen Netz aus Höhlen und Gängen: Napoli Sotteranea. Den abgetragenen Tuffstein nutzt man ursprünglich als Baustoff für die Stadt oben. Gleichzeitig wird ein Zisternensystem zur Wasserversorgung angelegt. Im Zweiten Weltkrieg schätzen die Neapolitaner die Unterwelt als Luftschutzkeller. Der Weg in die Katakomben führt über viele Stufen zunächst bis auf 35 Meter hinab und dann immer tiefer in ein regelrechtes Steingewirr. Von den rund 10 000 Höhlen sind nur wenige erforscht.
So etwas kann man von der klassischen Antike nicht sagen. Das Museo Archeologico Nazionale gewährt einen tiefen Einblick in Alltag und Ambiente, Gedanken und Glauben der Menschen, die vor 2000 Jahren den Erdkreis zu beherrschen meinen. Ein Feuerwerk von Fresken und Mosaiken, Pornographie und Porträts, Gebrauchsgegenständen und Götterstatuen, die großteils aus Pompeji und Herculaneum stammen. Nackte Mänaden tanzen mit lüsternen Bacchanten, wir sehen die griechische Dichterin Sappho und Alexander den Großen, die verführerische Venus von Neapel (Venere callipige) und den Farnesischen Stier, die größte uns bekannte Marmorplastik der Erde. In Vitrinen liegen Teller, Tassen und Tafelsilber, filigraner Frauenschmuck und Götterbildchen. Die Kaiser stehen in Marmor in Reih und Glied. Im Untergeschoß bezaubert eine ägyptische Sammlung. Überall Motive, die man in der ganzen Welt aus den Kunst- und Geschichtsbüchern kennt! Ein Besuch dieses Hauses ist auch eine gute Vorbereitung für den Rundgang durch die antiken Stätten der Umgebung! Archäologen und Historiker sind sich einig: Kein Museum dieser Erde kann dem Haus in Neapel das Wasser reichen.
Nach dem schönsten Platz auf unserem Planeten gefragt, antworten viele Weltenbummler: Santa Lucia, vor dem Vesuv und dem idyllischen Jachthafen, links das Nobelhotel Vesuvio, in dem am 2. August 1921 der große Caruso nach einer Operation stirbt, rechts das legendäre Castel dell´Ovo. Hier schmachten Konradin und seine Freunde, Ketzer, Rebellen, Atheisten, Mörder und Sünderinnen. Ovo ist das Ei, wie dieses aber ausgerechnet zum Namensgeber der phantastischen Burg im Meer kommt, bedarf schon deswegen einer gesonderten Erörterung, weil Neapel (wie ganz Italien übrigens) nicht nur von seiner reichen Geschichte lebt, sondern auch von einer ungemein reich blühenden Mythologie (Glaube und Religion des Altertums). Stellvertretend für die Vielfalt des heidnischen Namensbestandes der Antike, der ungeniert in die Gegenwart reicht, stellen wir das Ei, nach dem Castel dell´Ovo seinen Namen hat, in den Mittelpunkt einer Interpretation, die sich auf die griechisch-römischen Texte stützt.
Nach der Volksetymologie liegt in der Festung ein Ei, von dem das Schicksal Neapels abhängt. Doch die Wahrheit wurzelt in den Fabeln, Figuren und Festen vor Christi Geburt. Eine Sirene gründet die Stadt, wie wir gehört haben, und das Ei ist das Symbol der Dioskuren (Zwillinge), die überall im Mittelmeer (also auch in Neapel) die Helfer und Patrone der Seefahrer sind, was man sogar im Neuen Testament nachlesen kann. Und wie kommen die beiden Götterzwillinge zum Ei? Sie haben ihre Existenz einem Abenteuer von Göttervater Iupiter zu verdanken, der die Königstochter Leda als Schwan verführt. Diese legt, da Vater ein Vogel ist, daraufhin Eier, aus der die Dioskuren (Castor und Pollux) schlüpfen. Seitdem hat das Ei eine überragende mythologische Bedeutung, dem sich sogar das Christentum (Osterei) nicht entzieht. Da alle antiken Seeleute die aus dem Ei gekrochenen Dioskuren um Schutz anflehen und viele Häfen ihnen geweiht sind, liegt es also nahe, daß von ihnen auch Castel dell´Ovo seinen Namen hat.
Und so mischen sich in Santa Lucia sagenhafte Geschichten mit Bezeichnungen, deren Bedeutungen sich ganz schön verbergen. Doch zurück in unsere Gegenwart im Schatten des Castel dell´Ovo: Vor singenden Fischern, bettelnden Katzen und dem Vesuv wird herrliches Bier gezapft und exzellenter Cappuccino kredenzt. In den Restaurants serviert man den Fischfang des Tages. Man hat gewöhnlich eine Riesenauswahl aus dem Reich des Meergottes Neptun. Zubereitet werden die Frutti di mare nach alten Rezepten, aufgetragen von jungen Neapolitanerinnen, die das Erbgut ihrer Mütter selbstbewußt zur Schau tragen. Nur die Sirenen der Polizei und Rettungsfahrzeuge, die aufsteigenden Jets und Automobile auf der Uferstraße verraten, daß man sich am Rande einer Millionenstadt befindet.
Wer länger am Golf weilt, sollte sich ein Aufführung im Teatro di San Carlo nicht entgehen lassen. Welch wohlklingender Name! Es wird 1737, also 40 Jahre vor der Mailänder Scala, eingeweiht und ist somit eines der ältesten Opernhäuser der Welt. Beinahe orientalisch mutet der Innenraum an: Eine majestätische Bühne, prächtig dekorierte Balustraden und eine mit Fresken verzierte Decke erheben das Haus zu einem Juwel erster Güte. „Das Theater ist schön”, schreibt 1770 Mozart seiner Schwester Nannerl nach Salzburg. 1835 wird hier Donizettis Lucia di Lammermoor uraufgeführt, 1849 VerdisLuisa Miller.
Einen Besuch ist die Oper noch aus einem anderen Grund wert. Es läuft einem eiskalt über die Schulter, wenn man hört, daß hier Dilettanten mit Messer und Steinen Verbrechen an Zehntausenden von Knaben verüben. Napoli ist nämlich im 17./18. Jahrhundert das Zentrum der Kastration. Buben mit sechs, sieben Jahren werden verstümmelt, weil man ihre hohen Stimmen braucht. Eine Frau ist des Einsatzes in Gottes- und Opernhäusern nicht würdig. Und so verenden die meisten Knaben nach den Eingriffen jämmerlich. Nur ganz wenige Kandidaten überleben. Die Bühne im Teatro di San Carlo könnte also auch erzählen vom Wahnsinn der Menschheit.
Neben dem Theater die Galleria Umberto I. Als dieser Prachtbau mit Kuppeln und Glas in der Höhe und bunten Mustern am Fußboden 1890 eingeweiht wird, verfällt die Stadt in einen wahren Rausch von Schopping und Shoking. Erlesene Seidenkleider inmitten eines Viertels, in dem die Menschen am Hungertuch knabbern? Man regt sich zusätzlich über die Form des Einkaufszentrums der Reichen und Schönen auf. Ausgerechnet das Kreuz Christi dient als Grundriß. Neapel ist damals zerspalten wie eh und je. Das muß man wissen, wenn man von Überfällen der Armen hört. Heute kommt es selten zu Zwischenfällen, das schon deshalb, weil die Polizei allgegenwärtig ist! Und so kann man mit Ruhe und Freude von preiswerten Bildern der Hobbymaler bis zu teuren Accessoirs viel und das erwerben, was die Geldbörse gestattet. Und noch etwas macht die Galleria Umberto I. zu etwas ganz Besonderem: Von der Boutique Barbaro gestattet eine Tür den Gang zum unterirdischen *Theater**Margherita.*
Und schließlich nochmals ein Gang um die Ecke und wir sind im Café Gambrinus, einer neapolitanischen Kultstätte mit Wiener Flair. Zwischen herrlich renoviertem Belle-Epoque-Interieur und Malereien des späten 19. Jahrhunderts wird mitten in Neapel die Tradition jenseits der Alpen lebendig. Der legendäre flandrische König Gambrinus gilt zwar als Erfinder des Bieres, doch hier in dem nach ihm benannten Haus sollte man sein Produkt lieber durch den ausgezeichneten Kaffe ersetzen. In den Luxusräumen hier treffen sich gerne die Mitglieder der deutschen Kolonie (Diplomaten, Sängerinnen, Maler, Soldaten, Seefahrer, Köchinnen). Wir schließen für einen kurzen Moment die Augen - und sehen die Elite des 19./20. Jahrhunderts. Von Verdi (*1813 bei Parma) erzählt man, er flirte hier gerne mit seiner Geliebten. Heute begegnen sich im Café Gambrinus Bankdirektoren mittleren Alters mit jungen Frauen, deren hohen Absätze und tiefen Dekolletes manchmal beklatscht werden, und Fremde, die das Sprichwort nicht verstehen: „Vedi Napoli poi Muori.”
Informationen:
E.N.I.T. - Tel.: 089 533163; - E-mail: E.N.I.T. - Internet: www.piuitalia.2000.it
E.P.T. - Tel.: ++39 081 405311 - Internet: www.ept.napoli.it