Der Intercity gleitet fast lautlos durch die schweizerische Bergwelt. Die meisten Reisenden sehen begeistert aus dem Fenster, zumindest so lange der Zug nicht wieder in den nächsten Tunnel einfährt. Traditionelle Sepplhosen trägt kaum jemand im Abteil – abgesehen von einer Gruppe japanischer Wanderfreunde. Ab Brigg geht es weiter mit der Regionalbahn – und schließlich noch mit dem Postbus, der eine schmale Straße hochfährt. Sie verbindet das tiefer gelegene St. Nikolaus mit dem höher gelegenen Grächen. Um 17:40 sollten wir, nach knapp zehnstündiger Fahrt, am Postamt in Grächen ankommen – um 17:38 sind wir bereits da. Ein erster Eindruck von der Schweizer Pünktlichkeit.
Erst vor gut fünfzig Jahren wurde das Bergdorf Grächen durch ein Asphaltstraße erschlossen. Schon wenige Jahre später bauten die Einwohner ihre erste Sesselbahn -hinauf zur Hannigalp. Als die schlimmsten wirtschaftlichen Auswirkungen des zweiten Weltkriegs überwunden waren, schöpfte auch Grächen neue Hoffnung. Der 65-jährige pensionierte Dorfschullehrer Reinhard Walter erinnert sich noch gut an diese Zeit: Der Walliser Adolf Fux, dessen Ururgroßeltern aus Grächen stammte, war es, der die örtlichen Honoratioren aus Grächen und Saas-Fee – insbesondere die Gemeinderäte und die Kurvereine – zu einer gemeinsamen Initiative überreden konnte. Mit Pickeln, Schaufeln und Sprengstoff wurden entlang der Mischabelkette ein rund sechzehn Kilometer langer Höhenweg angelegt. Zum Teil nutzte man alte Hirtenpfade, zum Teil führte der neue Weg auch an Abhängen entlang, die direkt aus dem Fels gesprengt wurden.
„Um sich vor den wilden Strömungen der Neuzeit zu bewahren, sind einige naturverbundene Menschen alten Spuren von Gemsjägern und Schafhirten nachgegangen und haben sich zu einer Werksgemeinschaft zusammen geschlossen, die verborgenen Tritten und Steigen ein offenes Gesicht und ein gemeinsames Ziel geben wollte“, schrieb Adolf Fux später in seinem „Wanderbuch Vispertäler.“ Die Anlage des Höhenwegs war eine Pioniertat, von der die beiden Gemeinden später kräftig profitiert haben – denn der Höhenweg von Grächen nach Saas-Fee, der 1954 erstmals als „für Schwindelfreie begehbar“ erklärt wurde, entwickelte sich zu einer der beliebtesten Tagestouren in den Walliser Alpen.
Natürlich habe auch ich mir diesen Weg vorgenommen – gleich für meinen ersten vollen Aufenthaltstag in Grächen. Damit das Einwandern nicht zu anstrengend wird, einige ich mich mit meinen Mitreisenden auf die abgespeckteVersion – mit der Seilbahn geht es nach oben zur Hannigalp. Kurz vor dem Einstieg in die Seilbahn richten wir unseren Blick gen Süden. Dort stoßen unsere Augen auf einen Berg, der aussieht wie eine Schokoladenpyramide von Toblerone: Das Matterhorn, stolze 4478 Meter hoch, der sagenumwobenste und bekannteste Berg des gesamten Wallis. Natürlich wirbt der Ort Grächen, der auf etwa 1600 Meter Höhe liegt und dessen Name vom lateinischen „granica“ stammt, was soviel wie Kornspeicher bedeutet, kräftig mit diesem Anblick: „Matterhorn Valley“, so nennt sich das Tal unterhalb Grächens – doch eigentlich müsste es „sun valley“ heißen – denn kaum ein Ort in den Schweizer Alpen wird von der Sonne derart verwöhnt.
Als wir die Seilbahn an der Hannigalp verlassen, befinden wir uns schon auf 2100 Meter. Eine Höhe, auf der in der Zeit von Juni bis September, manchmal auch in den Oktober hinein, problemlos gewandert werden kann – sobald die Gemeindearbeiter die Folgen von Erdrutschen und Schneeschmelze beseitigt haben. Bereits der Ausgangspunkt vermittelt einen Eindruck davon, welch’ beeindruckende Panoramablicke uns während der Wanderung erwarten werden: Auf der Nordwestseite der Bahnstation schweift unser Blick vom Galenstock am Rhonegletscher vorbei über das Oberaarhorn, den Aletschgletscher, das Aletschhorn und das Bietschhorn und wieder zurück zu den Pyramiden des Brunegghorn und des Weisshorn. Und weit hinten – in der Mitte des Talesda ist es wieder: das legendäre Matterhorn, dem wir von nun an unseren Rücken zuwenden.
Circa 6,5 Stunden Fußmarsch liegen vor uns – und das bei strahlendem Sonnenschein. „Der Weg in die Stille“ – so wurde der Höhenweg auch genannt – und in der Tat, wenn man die Hannigalp hinter sich lässt und dem schmalen Pfad folgt, der weit oberhalb des Saastals am Berg entlang führt, findet man die nötige Ruhe, um den Blick auf die umliegenden 4000er ungestört und unbeschwert zu genießen. Die ersten eineinhalb Stunden geht es langsam, aber stetig bergauf. Etwa 250 Höhenmeter haben wir zurückgelegt, als wir Stock erreichen. Sonderlich anstrengend war das erste Stück nicht – und der Blick auf das Schilthorn, das Bigerhorn und das Balfrintal entschädigt allemal für die Mühen. Allerdings merken wir jetzt, warum die Begründer des Weges bereits vor fünfzig Jahren darauf hingewiesen haben, dass die Wanderer schwindelfrei sein sollen: Links von dem zum Teil nur siebzig Zentimeter breiten Pfad geht es zuweilen nahezu senkrecht nach unten. Gut, wenn man trittsicher ist und seine Sinne beisammen hält. An den etwas kritischeren Stellen sind Sicherungen angebracht: ein Seil an der Wand erleichtert das Festhalten. Kletterkenntnisse und eine besondere Kondition sind nicht erforderlich – der Weg eignet sich für fitte 14-jährige genauso wie für trainierte 60-jährige. Genug Proviant sollte man allerdings einpacken - denn eine Jausenhütte oder eine bewirtschaftete Alm sucht man entlang des Weges vergeblich.
Von Stock aus bis zum Schweibbach geht es nun wieder langsam bergab – bis wir, auf der Mitte des Weges, wieder unsere Ausgangshöhe erreicht haben. Noch fühlen wir uns frisch – und beschließen deshalb noch ein Stück weiter zu wandern, bevor wir uns auf die Suche nach einem Picknickplatz machen. Es geht wieder bergauf! Beim zweiten Anstieg des Tages sind wiederum etwa 250 Höhenmeter zu überwinden. Diesmal ist es anstrengender, die Sonne brennt fast unbarmherzig vom Himmel. Der Blick vom markanten Aussichtsfelsen bei Bockwang entschädigt erneut für die Mühe, führt aber auch zu einer gewissen Ernüchterung: etwa fünfeinhalb Stunden sind wir mittlerweile gewandert- und Saas-Fee ist noch weit. Die Wegstrecke, die noch vor uns liegt, ist jetzt gut sichtbar: zuerst ist ein Geröllfeld, die Schochne, zu durchqueren, im Anschluss daran stürzt der Biderbach talwärts, der mittels eines Blechtunnels unterquert wird. Danach geht es noch ein ganzes Stück auf einem Pfad entlang, der direkt aus dem Fels gesprengt wurde. Anschließend führt der Weg allmählich talwärts – doch bis wir in Saas-Fee eintreffen, sind fast acht Stunden vergangen. Um den sympathischen Ort am Fuße des Feengletschers mit seinem autofreien Zentrum, den urigen alten Stadeln sowie seinen schmucken Touristenhotels im Chaletstil näher anzuschauen, sind wir zu müde.Ein Bus bringt uns zurück nach Grächen – dort beschließen wir, an diesem Abend keinen Meter mehr zu laufen.
Am nächsten Tag lassen wir es gemütlicher angehen – High Tech statt High Mountains, ist an diesem Tag unsere Devise. Beim Tourismusverband Grächen leihen wir uns ein kleines gelbes GPS-Gerät, das uns auf einer ausgewählten Strecke des Ravensburger Spielewegs entlang führen soll. Der Spieleweg, der durch kleine Wäldchen und entlang alter Wasserleitungen, den sogenannten Sounen, führt, gehört zu den zahlreichen Angeboten, mit denen die Sonnenstube des Wallis um Familien mit Kindern wirbt. Und tatsächlich: Elf- bis zwölfjährige, die anscheinend allesamt mit Gameboy und Handy groß geworden sind, kommen spielendmit dem mobiltelefongroßen Gerät zurecht. Ich jedoch erkenne nur ein kleines Männchen und einen schwarzen Strich auf dem Display – der noch dazu ständig hin und her springt. Erst als ich den Maßstab vergrößere, wird klar, was angezeigt werden soll. Die Figur befindet sich etwas abseits des vorgezeichneten Wegs. Also ab nach links. Plötzlich erkenne ich gar nichts mehr auf dem Display, ach so, ich habe versehentlich ins Menü geschaltet. Wie komme ich nun bloß wieder zu meinem Strich und zu meinem Männchen zurück. Ob ich den 12-jährigen dort vorne um Rat fragen soll?
Nach ein bisschen Übung klappt es dann doch – doch so richtig kann ich mich für das GPS-Wandern nicht begeistern. Zumindest diese Geräte hier sind eher eine Spielerei – bei größeren Bergtouren freilich, bei denen nach einem Wetterumschwung leicht die Orientierung verloren gehen kann, können richtig programmierte GPS-Geräte zuweilen sogar Leben retten. Und auf schlecht ausgeschilderten Wegen kann man sich so manchen unfreiwilligen Umweg ersparen. Das funktioniert natürlich nur, wenn man die Koordinaten der vorgesehen Wanderung vorher ins Gerät eingegeben hat. Um das zu erleichtern, hat Schweiz Tourismus mittlerweile ihren Online-Wanderroutenfinder ergänzt. Nachdem man die gewünschte Wanderdauer und den Schwierigkeitsgrad eingegeben hat, erhält man Tourenvorschläge, zu denen anschließend Details abgerufen werden können – unter anderem Wanderkarten und GPS-Koordinaten, welche man dort kostenlos downloaden kann.
Schweiz Tourismus: Internet: www.MySwitzerland.com
Informationen zu den Orten Grächen uns Saas-Fee erhalten Sie bei:
Grächen Tourismus: Internet: www.graechen.ch
Saas-Fee Tourisms: Internet: www.saas-fee.ch
Der Höhenweg von Saas-Fee nach Grächen ist Teil einer mindestens neuntägigen Weitwanderung, der Tour Monte Rosa. Infos hierzu finden sich im Internet unter www.tmr-matterhorn.ch. Auf einzelnen Streckenabschnitte trägt diese recht anspruchsvolle Tour hochalpinen Charakter – weniger erfahrene Wanderer sollten bestimmte Streckenabschnitte nur in Begleitung eines Bergführers begehen. Zum Thema GPS-Wandern finden sich weitere Informationen im Internet – insbesondere unter www.gpswandern.de. Auf der Homepage von Myswitzerland.com können Sie sich unter „So finden Sie maßgeschneiderte Wanderrouten“ individuelle Tourenvorschläge machen lassen – und sich, wenn Sie die Details zu den einzelnen Tourenvorschlägen aufrufen, die GPS-Koordinaten zu diesen Touren kostenlos herunterladen.