Die großen Pharmaunternehmen geben inzwischen weit mehr Geld für die Vermarktung von Arzneimitteln aus als für Forschung und Entwicklung neuer Medikamente und Therapien. Geforscht wird vor allem an Arzneien, die sich später auch schützen lassen - und mit denen auch entsprechend viel Geld verdient wird. Studien mit Wirkstoffen, bei denen kein Patent winkt, haben es dagegen schwer, sich durchzusetzen.
Gut zeigen lässt sich das an den so genannten kurzkettigen Fettsäuren, die unter anderem MS-Patienten, Diabetikern und Morbus-Crohn-Erkrankten helfen könnten. Bereits in den 1980-er und 1990-er Jahren begannen Wissenschaftler damit, die Auswirkungen der in der Darmflora des Menschen vorkommenden Fettsäuren Essigsäure, Buttersäure und Propionsäure zu erforschen.
Sie gelangten zu erstaunlichen Ergebnissen: Kurzkettige Fettsäuren hatten einen positiven Einfluss auf den Fett- und Zuckerstoffwechsel des Organismus. Sie halfen in Experimenten den Cholesterinspiegel zu senken, das Sättigungsgefühl zu verlängern, den Appetit insgesamt zu reduzieren oder auch die eigene Körperabwehr besser auszubalancieren. Eigentlich sensationelle Ergebnisse: Doch nach Abschluss der Forschungsarbeiten geschah erst einmal Jahrzehnte nichts.
Die Ursache dafür liegt auf der Hand: Beispielsweise ist Natriumpropionat, das Salz der Propionsäure, mit dem die Wissenschaftler seinerzeit arbeiteten, seit Jahrzehnten etabliertes Konservierungsmittel in Brot oder beispielsweise Käse. Der Wirkstoff, auf dem die Hoffnungen vieler Patienten ruhten, war und ist nicht oder nur eingeschränkt patentierbar. Denn mögliche Anwendungen, über die bereits publiziert wurde, sind nicht mehr schützbar. Für die großen Pharmakonzerne war Propionat daher uninteressant als Profitbringer. Beim Butyrat, dem Salz der Buttersäure, war es ähnlich: Vielversprechende Ansätze zur Behandlung von Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa verschwanden trotz guter Erfolge wieder.
Erst mit der Erforschung der menschlichen Darmflora insgesamt rückten die kurzkettigen Fettsäuren wieder stärker in den Mittelpunkt: durch öffentliche Forschungsarbeiten wie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung oder an der Ruhr-Universität Bochum. Vielen Erkrankten machen diese Ergebnisse Hoffnung: Kurzkettige Fettsäuren könnten demnach helfen, Diabetes vorzubeugen oder zu lindern (Rutgers University in New Brunswick und Jiao Tong Universität in Shanghai), Knochen zu stärken und Gelenkentzündungen zu lindern (Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg) oder auch die Infektanfälligkeit im Alter zu reduzieren (Hochschule Neubrandenburg). Erste Forschungsergebnisse legen auch nahe, dass kurzkettige Fettsäuren helfen, den Verlauf von Autoimmunkrankheiten wie zum Beispiel Multipler Sklerose zu beeinflussen (unter anderem Ruhr-Universität Bochum).
Mittlerweile gibt es viele Belege dafür, dass kurzkettige Fettsäuren für die Darmgesundheit und den menschlichen Organismus eine entscheidende Rolle spielen - und viele Deutsche zu wenig von ihnen aufnehmen. Der Grund dafür: Die Produktion kurzkettiger Fettsäuren im Darm, die bestimmten guten Darmbakterien als Nahrung dienen, hängt direkt mit der Aufnahme von Ballaststoffen aus Pflanzenfasern zusammen. Gerade in vielen westlichen Ländern ist es um die Vielfalt der Darmbakterien schlecht bestellt, weil die Nahrung viel zu wenige pflanzliche Ballaststoffe enthält. Nur wenige Menschen schaffen hierzulande die von Ernährungsexperten empfohlene Menge von 30 Gramm pro Tag.
An verschiedenen Universitäten im In- und Ausland laufen derzeit Forschungsprojekte, die untersuchen, ob es neben der oft schwer umzusetzenden kompletten Ernährungsumstellung noch einen zweiten Weg gibt, die Bakterienvielfalt im Darm zu fördern. Forscher des Deutschen Instituts für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke haben in diesem Jahr nachgewiesen, dass die Zufuhr von Salzen kurzkettiger Fettsäuren - im konkreten Fall Propionate als Salze der Propionsäure - ähnlich positive Effekte hat wie der Verzehr von Pflanzenfasern. Das könnte künftig völlig neue Möglichkeiten für eine gesündere Ernährung eröffnen. Verwendet wurde medizinisch hochreines Propionat, das in Deutschland unter dem Handelsnamen Propicum erhältlich ist. Hergestellt wird es - wenig überraschend - übrigens nicht von einem der großen Pharmagiganten, sondern von einem mittelständischen Familienunternehmen aus dem Ruhrgebiet.