Um moralisch zu sein, muss man ein intaktes Vorderhirn besitzen, erläuterte Prof. Dr. med. Hans Förstl, anlässlich einer Veranstaltung der Lundbeck Arzneimittel GmbH in Hamburg. Die zugehörige so genannte „Theory of mind“ sei dabei die Grundlage jeden sittlichen Verhaltens. So hat das größte Frontalhirn mit knapp einem Meter der australische Stacheligel. Er sei sehr langsam und sehr nachdenklich.
Ist es also das, was Moral ausmacht? Hunde haben nur einen kleinen Frontallappen, aber sind sie deshalb weniger moralisch? Können Schimpansen über einander nachdenken? Das experimentell zu untersuchen, sei schwierig, meinte Förstl.
Er sagte weiter, es sei in jedem Fall keine gute Grundlage, zu denken, man sei allein auf der Welt. Schließlich kenne man dieses Phänomen auch als Erkrankung: Autismus. Kinder, die daran leiden, sind detail versessen und konzentrieren sich zum Beispiel auf das Besteck viel zu lange, was neben Ihnen liegt. Sogar Mathematiker seien als autistisch verschrien.
Der Unterschied vom „Normalsein“ zum Autismus liegt jedoch darin, dass rationelles Handeln bedeutet, nicht jedes Detail zu lange zu überprüfen, sondern „schnell“ einen motorischen Akt folgen zu lassen. „Normal“ entwickelte Kinder spüren sehr früh schon Emotionen und lernen dann, den Blick der Mutter zu deuten. Überhaupt werden Mimik von Vater und Mutter sehr früh bewertet. Man spricht also von der rudimentären Theory of mind (ToM), wenn auch Zusammenhänge hergestellt werden können. Zum Beispiel, dass der Vater, wenn er schimpft, gleichzeitig grimmig dreinschaut. Bis ein Kind drei oder vier Jahre alt ist, kann es aber diesen Zusammenhang nicht herstellen, wenn der Vater zum Beispiel für das Kind nicht sichtbar ist. Erst ab dem Alter von vier und fünf Jahren dann werden Geschichten erzählt, die faszinierend sein können, aber nicht unbedingt wahr sein müssen, weil Zusammenhänge auch falsch kombiniert werden können!
Es ist also eine herausragende menschliche Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen und Ansichten über deren Wahrnehmungen, Empfindungen und Gedanken zu entwickeln und zu formulieren. Patienten mit psychischen Störungen haben eine verminderte oder verschobene Wahrnehmung sozialer Signale, bewerten Beziehungen anders, sind desinteressiert und unfähig zum Perspektivenwechsel (affektive, schizophrenieartige Erkrankungen, Demenzen).
Eine wichtige neurobiologische Grundlage für das unmittelbare Nachvollziehen der Handlungen und Empfindungen anderer stellen die so genannten Spiegelneuronen ( mirror neurons) in prämotorischen Arealen dar , die bei der bloßen Beobachtung von Vorgängen oder Auslösern aktiviert werden. Interesse an sozialen Interaktionen und planvolles Handeln mit einem Bedenken der längerfristigen Konsequenzen des eigenen Tuns („Realitätsprinzip“) sind an ein intaktes Frontalhirn gebunden; darauf basieren Funktionen und Eigenschaften, die als Rücksicht, Mitleid, Moral und Gewissen bezeichnet werden. Das Hirn bilanziert ständig wie ein Bordcomputer Tun und Handeln; ist die Bilanz schlecht, ist die Frustration groß.
Die frontotemporalen Demenzen (zum Beispiel Morbus Pick) sind Erkrankungen, bei denen weite Teile des Frontallappens zerstört werden. Hier herrscht der fortschreitende Verlust der ToM. Die Patienten werden enthemmt oder gleichgültig, verlieren das differenzierte Interesse an anderen, das Empfinden für „gut“ und „böse“, und damit auch jedes Verantwortungsgefühl. Die enorme Bedeutung der ToM wird durch diese Erkrankungen besonders eindrucksvoll illustriert.
Meist erzählen solche Patienten Witze; im Endstadium sind es aber nur noch zwei Silben, die erzählt werden und dann lachen die Patienten trotzdem anhaltend (Stunden bis Tage lang). Oder sie hauen ohne Unterlass mit dem Stock auf den Boden. Das Gedächtnis aber bleibt intakt! Verantwortung können diese Patienten nicht mehr tragen; so laufen sie zum Beispiel bei Rot über die Ampel.