Man begegnet ihnen überall, den (vorwiegend) jungen Leuten mit einer Flasche Wasser in der Hand. In Bahnen und Bussen, auf dem Sportplatz, in Parks, in Flugzeugen. Und in diesen Wochen auch bei den Marathonläufen. Sie huldigen einem medizinischen Grundsatz, der nunmehr über Bord geworfen, sozusagen ertränkt wird: Jahrelang lautete das Motto „Trinken, trinken, trinken“, so viel wie möglich, mehr sogar, als der Durst gebietet – jetzt heißt es plötzlich „Das Ganze Kehrt“, denn zu viel Wassertrinken ist gefährlich, kann sogar tödlich sein. Nicht nur für junge, auch für ältere Menschen.
Zu dieser Erkenntnis sind amerikanische Wissenschaftler gelangt, die Teilnehmer des Boston Marathon beobachtet und analysiert haben und die ein entsprechendes Papier soeben im „New England Journal of Medicine“ publizierten. An der Studie waren 488 Marathonläufer beteiligt. Ihnen wurden vor Beginn des Rennens und sofort danach Blutproben entnommen. Alle hatten, der Schulweisheit folgend, große Mengen Wasser zu sich genommen. Bei 62 der Läufer – das sind immerhin 13 Prozent der Versuchspersonen – wurde nach dem Rennen Hyponatriämie diagnostiziert, ein erniedrigter Natriumspiegel im Blut mit Werten unter 130 mmol/l. Drei der Läufer hatten so wenig Natrium im Blut, dass die Ärzte ein Ableben nicht ausschließen konnten – alle wurden gerettet. Natriummangel kann sich in niedrigem Blutdruck, Teilnahmslosigkeit, beschleunigtem Herzschlag und Muskelkrämpfen äußern.
Die Symptome bei den Läufern mit zu geringem Natriumgehalt im Blut waren einheitlich und offensichtlich: Sie liefen langsamer, brauchten über vier Stunden für den Lauf. Das gab ihnen auch mehr Zeit zum Wassertrinken. Sie nahmen während des Laufens im Durchschnitt drei Liter Flüssigkeit zu sich, immerhin so viel, dass ihr Gewicht am Ende des Rennens höher war als zu Beginn.
Die Studie war in Auftrag gegeben worden, nachdem sich bei Hunderten beobachteten Rennen immer wieder herausstellte, dass langsamere Läufer ins Ziel stolperten, sich übergeben mussten, sofort die Sanitätszelte aufsuchten, völlig erschöpft, kaum ansprechbar waren. Sogar Todesfälle waren registriert worden. Um Gewissheit zu erlangen, wurde die Studie in Angriff genommen.
„Die Erkenntnisse sind eindeutig“, urteilt Dr. Marvin Adner, Medizinischer Direktor des Boston Marathon. „Wir ahnten zuvor schon, dass wir da mit einem wirklichen Problem befasst waren. Jetzt haben wir den Beweis“. Dabei ist, so Dr. Adner, „Hyponatriämie durchaus zu verhindern. Man sollte während des Laufens mäßig trinken, aber keinesfalls bei einem Stopp Wasser nur so in sich hineinschütten“. Und der Kardiologe Dr. Paul Thompson, ebenfalls an der Studie beteiligt, empfiehlt: „Läufer sollten erst dann trinken, wenn sie uriniert haben – das ist dann das Zeichen, dass kein überschüssiges Wasser mehr im Körper ist“.
Sportärzte, so warnt in diesem Zusammenhang Dr. Tim Notkes von der University of Cape Town, kommen oft zu einer falschen Diagnose. Sie stellen statt Hyponatriämie eine Dehydration fest und verordnen in Notfällen sogar intravenöse Flüssigkeitszugaben. Vor irgendeiner Behandlung, so Dr. Noakes, müsse in jedem Fall der Salzgehalt des Blutes ermittelt werden.
Einen Todesfall wegen Hyponatriämie gab es beim Boston Marathon 2002. Eine 28-Jährige erreichte erst nach fünf Stunden die Ziellinie völlig erschöpft und trank sofort große Mengen Wassers. Minuten später brach sie zusammen – hirntot. Der Sodiumgehalt ihres Blutes wurde mit 113 Mikromoles pro Liter als gefährlich gering festgestellt. Beim London Marathon 2003 wurden 14 Läufer mit Hyponatriämie diagnostiziert, alle mussten sich einer Krankenhausbehandlung unterziehen.