Die Erkenntnis traf Kary Mullis wie ein Blitz aus heiterem Himmel, auch wenn dieser damals in jener Aprilnacht des Jahres 1983 dunkel gewesen sein dürfte und nur der Mond die einsame Bergstraße im Norden Kaliforniens beschien. Der Biochemiker ersann die Polymerase-Kettenreaktion, eine der revolutionärsten Technologien der modernen Biologie. Das Verfahren, engl. Polymerase Chain Reaction (PCR), ein Genkopierverfahren auf DNA- oder RNA-Basis, läutete das Zeitalter der Genomik ein und ist heute etabliertes Instrument in ungezählten biologischen und medizinischen Labors.
Mullis erhielt 1993 für seine Entdeckung den Nobelpreis für Chemie und verkaufte 1987 für „nur“ 10.000 US-Dollar das Patent seinem damaligen Arbeitgeber, dem Biotech-Unternehmen Cetus. Das enorme Marktpotenzial des Verfahrens hatte er nicht erkannt, ein Fehler, den er mit vielen anderen teilte, denn nur fünf Jahre später, 1992, erwarb Hoffmann-La Roche die weltweiten Rechte für 320 Millionen US-Dollar von Cetus. Doch die Anwendungen für die PCR-Technologie in Forschung und Entwicklung, Diagnostik in der Medizin, Lebensmittelkontrolle, Archäologie und Gerichtsmedizin wurden immer zahlreicher, getrieben auch durch den Automatisierungsprozess.
In der Historienforschung läutete die PCR das Zeitalter der Molekularen Archäologie ein. Kleinste Mengen an DNA aus organischen Fossilien (Zähne, Knochen, Gewebe) reichen aus, um wichtige Informationen zu den Funden zu erhalten – so zum Beispiel im Fall des Gletschermannes „Ötzi“. Mit Hilfe der PCR wird das Bild der Evolution zukünftig in vielen Fragen ergänzt, vielleicht sogar verändert werden.
Auch in der Gerichtsmedizin hat die PCR Fuß gefasst. Am Tatort sichergestelltes organisches Material – Blut, Haare oder Sperma – genügen, um den Täter mit dem berühmten genetischen Fingerabdruck zu überführen. Auch heute gängige Vaterschaftstests beruhen auf dem PCR-Verfahren.
Aktuelles Beispiel : der von den angeblich „ deutschen Kindern“ Charles A. Lindberghs geführte Verwandtschaftsnachweis ; Lindberghs DNA für die PCR stammt hier von Speichelspuren auf Briefmarken, mit denen er seine Post frankierte.
Das Potenzial der PCR ist längst nicht ausgeschöpft. Vor allem in der medizinischen Diagnostik wird sie noch viele Anwendungen finden. Neuere Entwicklungen zielen darauf ab, mittels Gentest bereits sehr früh die Veranlagung für Krankheiten wie Krebs, Diabetes Mellitus oder Parkinson zu erkennen. In vielen Fällen lässt sich der Ausbruch der Krankheit durch angepasstes Verhalten oder Einnahme von Medikamenten verhindern oder zumindest hinauszögern, wenn die Diagnose früh genug gestellt wird.
Eine der ersten diagnostischen Anwendungen der PCR war die Detektion von HIV-1 des AIDS-Virus. Die PCR hilft Ärzten beispielsweise, genau festzustellen, wie viele HIV-1 Viren im Blut eines Erkrankten vorhanden sind. Lebenswichtige Entscheidungen über die Behandlung können so schneller und sicherer getroffen werden, außerdem kann der Arzt überwachen, wie der Patient auf die Therapie anspricht.
Jeden Tag werden neue Anwendungen für die PCR entdeckt. Forscher rund um die Welt setzen die PCR ein, um auch solche Krankheiten besser zu verstehen und feststellen zu können, die nicht genetisch bedingt sind - Osteoporose oder Herzkrankheiten zum Beispiel. Eines Tages werden Ärzte so vielleicht in der Lage sein, Krankheiten vorzubeugen, bevor sie zum Ausbruch kommen. Und vielleicht werden sie sogar spezielle genetische Mutationen, die für Krankheiten verantwortlich sind, korrigieren können. Das Bild der diagnostischen Industrie beginnt sich zu wandeln, die PCR drückt der Diagnostik ihren Stempel auf.
Laut Prof. Bartel vom Labor Limbach in Heidelberg, werden heute „bereits rund zwei Drittel aller klinischen Diagnosen durch Labordiagnostik gestellt oder untermauert. Besonders gut etabliert haben sich die nukleinsäurebasierenden Verfahren dort , wo bisherige Analysen … keine befriedigenden Antworten geben können. Dies sind vor allem die Diagnostik der Hepatitisviren B und C sowie das Therapiemonitoring HIV- Infizierter unter antiretroviraler medikamentöser Therapie“.