Die Ärzte Ferdinand (1891-1966) und Walter (1987-1974) Huneke bemühten sich schon seit Jahren ihrer von starker Migräne geplagten Schwester therapeutisch zu helfen, allerdings ohne Erfolg. Bei einem erneuten Anfall spritze Ferdinand Huneke seiner Schwester ein von Kollegen empfohlenes Rheumamittel, welches Procain, ein Lokalanästhetikum, als Zusatz enthielt. Versehentlich verabreichte er die Spritze jedoch in die Vene statt in den Muskel. Überraschenderweise verschwanden die Kopfschmerzen und die typischen Begleitsymptome der Migräne innerhalb kürzester Zeit.
Auf der Suche nach einer Erklärung für dieses überraschende Ergebnis kamen die Brüder zu dem Schluss, dass Procain zum Heilungsprozess beigetragen hatte, wobei seine Wirkung wohl über das vegetative Nervensystem erfolgt sein musste. Ihre weiterführenden Untersuchungen bestätigten diese Annahme. Sehr viel später wurde dann wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Wirkung von Procain auch über ein schnelles Informationssystem des Körpers, den Zwischenzellraum, zustande kommt.
Anfangs spritzen die Brüder Huneke Procain nur am Ort der Erkrankung selbst und etablierten damit die Segmenttherapie als Teil der Neuraltherapie. In weiteren Experimenten fanden sie heraus, dass lokal injiziertes Procain auch eine weitere Wirkung haben kann. In der 1928 veröffentlichten Arbeit “Unbekannte Fernwirkungen der Lokalanästhesie” beschreibt Ferdinand Huneke, dass Beschwerden in bestimmten Körperregionen durch Injektionen an entfernten Körperstellen behandelt werden können - die Störfeldtherapie war geboren.
Die Neuraltherapie, oft als Akupunktur des Westens bezeichnet, ist ähnlich wie die Akupunktur, ein regulatives Therapieverfahren, welches mit Setzen von Reizen in Form von Spritzen oder Infiltrationen die körpereigenen Abwehr- und Heilungsmechanismen fördert. Darüber hinaus kann sie auch diagnostisch eingesetzt werden. Bei richtiger Anwendung gibt diese Methode eine rasche Antwort des Organismus, besonders bei funktionellen Erkrankungen und Schmerzen.
Sie ist in zwei Bereiche, die Segment- und die Störfeldtherapie, gegliedert und baut auf drei Grundannahmen: 1. jede chronische Erkrankung kann durch ein Störfeld entstanden sein, 2. jede Stelle des Körpers ist ein potentielles Störfeld, 3. die Injektion eines Lokalanästhetikums in das Störfeld beziehungsweise in das betroffene Körpersegment heilt die dadurch entstandene Erkrankung.
Die Segmenttherapie, auch therapeutische Lokalanästhesie genannt, stützt sich auf die von Sir Henry Head (1861-1940) definierten Headschen Zonen und die von Sir Morell Mackenzie (1837-1892) entdeckten cutiviszeralen Reflexbögen. Ausgehend von Mackenzies Beobachtungen, dass es Verbindungen zwischen den Nerven der Haut und den vegetativen Nerven der inneren Organe gibt (cutiviszerale Reflexbögen), ordnete Head jedem Körperabschnitt ein bestimmtes Hautareal zu - die Head-Zone. Ist die Haut in einer bestimmten Zone sehr empfindlich, kann auf eine Erkrankung des dazugehörigen Organs geschlossen werden. So schmerzt z.B. die rechte Schulter bei Gallenleiden oder der linke Arm bei einem Herzinfarkt.
Bei der Segmenttherapie werden Lokalanästhetika meist mittels Hautquaddeln direkt in das von der Krankheit betroffene Körpersegment eingebracht. Bedingt durch die Wechselwirkungen zwischen den Nerven der Hautschichten und inneren Organen werden die durch Lokalanästhetika gesetzten Reize direkt an die betroffenen Organe weitergeleitet. Das vegetative Nervsystem wiederum sorgt dafür, dass sich das Lokalanästhetikum im ganzen Segment verteilt. Es kommt zur Heilung, zumindest aber zur Linderung der Beschwerden.
Wenn die Segmenttherapie nicht hilft, wird mit der Störfeldtherapie weitergearbeitet. Sie sucht nach dem eigentlichen Grund einer Symptomatik, der sich oftmals in weit entfernten Organen oder Körperbereichen befindet. Jedes Gewebe, das durch frische oder abgelaufene Entzündungen, Verletzungen oder Narben verändert ist kann zum Störfeld werden. Die Zellen von erkrankten Geweben haben einen anderen bioelektrischen Zustand als gesundes Gewebe. Sie sind, ähnlich wie eine erregte Nervenzelle oder angespannte Muskelzelle, depolarisiert und wirken daher wie ein Störsender auf die verschiedensten Funktionen im Körper, die sie nachhaltig beeinträchtigen können. Oft leidet der Patient dann an scheinbar nicht zusammenhängenden Erkrankungen. So kann z.B. eine bereits verheilte Narbe am Bein oder ein vereiterter Zahn die Ursache für quälende, oft chronische Schulterschmerzen sein.
Wird in das erkrankte Gewebe nun ein Lokalanästhetikum, wie Procain oder Lidocain eingebracht, entweder durch Unterspritzen der Narbe oder direkte Infiltration in das geschädigte Gewebe kommt es zu einer Repolarisation in den Zellen, also zum bioelektrischen Normalzustand. Sobald der Störsender beseitigt und damit der Störkreislauf unterbunden ist, kann sich der Körper mit seinem empfindlichen Regulationssystem selbst heilen. Möglich wird das, weil die Grundsubstanz der Zellen eng mit dem im ganzen Körper verteilten vegetativen Nervensystem, speziell dem Sympathikus, vernetzt ist. Über das vegetative Nervensystem werden nicht nur Informationen über Störungen, sondern auch über nun wieder einwandfrei arbeitende Zellen blitzschnell weitergeleitet und die Reparationsvorgänge in Gang gesetzt.
So kann es im Idealfall nach nur einer Injektion oder Infiltration des Lokalanästhetikums innerhalb von Sekunden zu einer völligen Heilung kommen. In der Neuraltherapie wird dieses Phänomen als Sekundenphänomen nach Huneke genannt.
Prinzipiell können mit der Neuraltherapie (fast) alle Krankheiten behandelt, manchmal sogar geheilt, zumindest aber der Verlauf positiv beeinflusst werden. Durch das Ausschalten von u.U. weit entfernt liegenden Störfeldern werden insbesondere chronische und funktionelle Erkrankungen, auch chronische Schmerzzustände behandelt.
Die therapeutische Lokalanästhesie (Segmenttherapie) wiederum hat bei der Behandlung und Diagnose von Schmerzen des Bewegungsapparates, bei Weichteilrheumatismus und Nervenschmerzen längst den chirurgischen und orthopädischen Alltag erobert.
Dennoch ist die Neuraltherapie keine Wunderheilmethode. Krebs, Erbkrankheiten, Mangelerscheinungen, schwere Infektionskrankheiten oder Geisteskrankheiten können nicht geheilt werden. Sie hat, wie jede andere Behandlungsmethode auch, ihre Stärken und Schwächen. Doch kann sie in vielen Fällen Linderung oder manchmal sogar Heilung bringen, wo andere Behandlungen längst versagt haben, und dies ohne den Organismus massiv zu belasten.