Mangelversorgung droht!
Wird es zukünftig geschätzte 20.000 zusätzliche Amputationen und 4,5 Mio. unterversorgte Gefäßerkrankte pro Jahr mehr geben? Zahlen, die für ein modernes, menschenorientiertes Gesundheitssystem unvorstellbar sind. Doch genau dieses Szenario befürchten Gefäßspezialisten, sollte die vom Bundesgesundheitsministerium geplante Arzneimittel-Positivliste am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten. Denn dann werden die einzigen Medikamente, die Patienten mit einer arteriellen Verschlusskrankheit (AVK) vor einer Amputation bewahren können, nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet. Dies bedeutet für die betroffenen Patienten nicht nur enorme Einbußen ihrer Lebensqualität sondern häufig Verlust des Arbeitsplatzes und soziale Isolation. Für die behandelnden Ärzte erwächst durch die Positivliste eine extreme Einschränkung der Behandlungsfreiheit. Durch den Wegfall der konservativen Therapie werden auch explosionsartig ansteigende Kosten für das Gesundheitswesen erwartet, z. B. durch gefäßchirurgische Operationen und zusätzliche Amputationen und die notwendige Finanzierung von Rehamaßnahmen und Frühberentungen. Die Vertragsärztliche Arbeitsgemeinschaft “Gefäßerkrankungen” e.V. (VAG) stellt sich daher entschieden gegen diese Regierungsvorlage und kämpft im Namen ihrer Patienten für den Erhalt der Verordnungsfähigkeit der notwendigen vasoaktiven Arzneimittel. Wie dramatisch die Situation für die Patienten werden könnte, erläuterte die VAG auf einer Pressekonferenz.
Bei der arteriellen Verschlusskrankheit (AVK), im Volksmund auch “Schaufenster-Krankheit” genannt, handelt es sich um Verengungen und Verschlüsse der Arterien, meist in den Beinen. Die Folge sind schwerwiegende Durchblutungsstörungen und starke Schmerzen in den betroffenen Gliedmaßen, erklärte Dr. Michael Emter, niedergelassener Angiologe und Vorsitzender der VAG aus Hannover. Die AVK ist eine chronische, fortschreitende Erkrankung. Sie wird in vier Stadien eingeteilt und mündet im Endstadium in einem totalen Gefäßverschluss mit Absterben der betroffenen Gliedmaßen.
Bei der Therapie der AVK wird ein von den medizinischen Fachgesellschaften formuliertes Stufenkonzept angewandt, berichtete Dr. Helmut Nüllen, Facharzt für Gefäßchirurgie aus Mönchengladbach. Es richtet sich nach den Krankheitsstadien, aber auch nach dem Allgemeinzustand des jeweiligen Patienten. Dabei stehen die konservative Therapie mit Tabletten, Gehtraining und Ausschaltung der Risikofaktoren Rauchen, Bluthochdruck, Cholesterinerhöhung und Übergewicht immer am Anfang der Bemühungen und operative Eingriffe immer möglichst am Ende der Entscheidungskette.
Ziel aller Behandlungsmaßnahmen ist die Wiederherstellung der Blut- und damit der Nährstoffversorgung in dem betroffnen Gebiet und somit die Erhaltung der “funktionierenden Extremität”. Sollte dies operativ nicht möglich sein, muss konservativ versucht werden eine Amputation zu vermeiden. In diesen Fällen wird seit Jahren die Infusionstherapie mit Prostaglandin E erfolgreich eingesetzt. Es ist das einzige Arzneimittel, das für die Behandlung der schweren AVK-Stadien III und IV zugelassen und nachweislich wirksam ist und die Lebensqualität der Patienten verbessert. Zudem ist die Therapie mit Prostaglandin E die einzige Möglichkeit, drohende Amputationen zu vermeiden, betonte Emter.
Doch laut Plan der Bundesregierung sollen nun die verordnungsfähigen Medikamente für AVK-Patienten nicht in die Positivliste aufgenommen werden. Dies bedeutet im Klartext: Mit Einführung der Positivliste wäre keinerlei medikamentöse Behandlung von gesetzlich versicherten AVK-Patienten mehr möglich. Die Folgen wären fatal: Steigende Anzahl der Patienten, die mangels rechtzeitiger Behandlung in die fortgeschrittenen AVK-Stadien III und IV gelangen, steigende Anzahl an Operationen und schätzungsweise zusätzliche 20.000 bis 25.000 Amputationen pro Jahr, berichtete Nüllen. Für die Patienten ein Fiasko, ergänzte Emter, denn Amputationen bedeuten neben einem enormen Verlust an Lebensqualität für die Betroffenen meist Berufsunfähigkeit und in letzter Konsequenz das soziale Aus.
Aus Sicht der Gefäßspezialisten ist dies eine einfach zu beantwortende Frage: Durch die Positivliste und den Wegfall der konservativen Therapiemöglichkeiten für AVK-Patienten ist eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen vorprogrammiert. Die teureren operativen Maßnahmen werden sprunghaft ansteigen. Hinzu kommen die Folgekosten von Amputationen: Stationäre Krankenhausaufenthalte, Rehabilitationsmaßnahmen, häusliche Umbaumaßnahmen und schließlich auch Frühberentung sind nur einige der möglichen Zusatzbelastungen. “So ist eine Kostenersparnis am Beispiel der vasoaktiven Substanzen durch die Positivliste nicht zu erwarten, sondern eher das konkrete Gegenteil”, so Emter.
Zudem belegt eine vom Marktforschungsinstitut IMS-Health durchgeführte Studie, dass das von der Bundesregierung erwartete Einsparungspotential durch die Arzneimittel-Positivliste von 800 Mio. Euro nur erzielt werden kann, wenn zukünftig 60 Prozent der bisherigen Arzneimittel-Verordnungen in Deutschland ersatzlos wegfallen würden. Diese Rechnung halten die Mehrheit der Ärzte und gesundheitspolitischen Experten in Deutschland für unrealistisch.