Das Leben psychisch kranker Menschen war bis in die 1970er Jahre hinein von Isolation und Ausgrenzung geprägt. Eine wohnortnahe, an den Bedürfnissen der Patienten und ihrer Angehörigen orientierte Versorgung war eher die Ausnahme als die Regel. Auch andere Errungenschaften der modernen Psychiatrie, etwa Tageskliniken und Institutsambulanzen oder auch multiprofessionelle Behandlungsteams, die schwer erkrankte Patienten durch den gesamten Behandlungsverlauf begleiten, lagen damals noch in weiter Ferne.
Versorgt - besser gesagt verwahrt - wurden psychisch kranke und behinderte Menschen damals überwiegend in großen Landeskrankenhäusern mit zum Teil über 2.000 Betten. Über 70 Prozent der Patienten waren gegen ihren Willen bzw. ohne eigene Einwilligung dort. Die Häuser waren mitunter stark renovierungsbedürftig und überbelegt. Auf einen Arzt kamen bis zu 64 Patienten. Diese waren in großen Schlafsälen untergebracht und mussten Anstaltskleidung tragen. Für die Arbeiten, die sie z.B. in Anstaltswerkstätten leisteten, wurden sie nur minimal entlohnt.Erst mit dem Bericht der Psychiatrie-Enquête-Kommission 1975 wurde ein Reformprozess angestoßen, der aus „Irrenhäusern” und Verwahranstalten moderne Behandlungszentren gemacht hat.
In vielen Schritten wurde seitdem an der Umsetzung der Grundforderungen der Psychiatrie-Enquête gearbeitet. Kernziel war dabei die Gleichstellung psychisch kranker Menschen mit somatisch kranken Menschen - d.h., ein Mensch mit Depressionen oder einer anderen psychischen Erkrankung sollte genauso wie ein Mensch mit einem gebrochenen Arm oder Herzproblemen gemeindenah stationär und ambulant versorgt werden können. Dazu war es z. B. erforderlich, an den Allgemeinkrankenhäusern vor Ort psychiatrische Abteilungen und ambulante Dienste aus- bzw. aufzubauen. Eine weitere Forderung: Die Koordination der Behandlung sowie die Zusammenarbeit aller Beteiligten sollte verbessert werden; insbesondere sollten auch die Patienten und Angehörigen stärker in die Therapieentscheidungen eingebunden werden. Heute ist eine wohnortnahe stationäre und teilstationäre Versorgung psychisch Kranker in den meisten Teilen Deutschlands Realität. Sie wird von den psychiatrischen Kliniken, den Universitätskliniken, den spezialisierten Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern sowie den Tageskliniken sichergestellt.
An vielen psychiatrischen Kliniken wurden zur ambulanten Versorgung von schwerer Erkrankten die so genannten Institutsambulanzen eingerichtet. Für die ambulante Versorgung außerhalb des Krankenhauses sorgen die niedergelassenen Psychiater und Neurologen. Sozialpsychiatrische Dienste suchen die Patienten bei Bedarf auch zu Hause auf. Von besonderer Bedeutung ist es, den Betroffenen den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu ermöglichen - dies wird über vielfältige Rehabilitationsmaßnahmen angestrebt. Generell hat die Entwicklung moderner Therapieformen und Medikamente dazu beigetragen, die Lebensqualität psychisch kranker Menschen deutlich zu verbessern. Doch die Modernisierung der Psychiatrie ist auch heute noch nicht abgeschlossen: Immer noch steht sie vor vielen Herausforderungen. Ein wichtiger Punkt hierbei ist es, sicherzustellen, dass trotz struktureller Unterschiede z. B. zwischen Großstädten und Flächenstaaten die Patienten überall den gleichen, uneingeschränkten Zugang zu den verschiedenen Therapiemöglichkeiten haben. So kommen in Bremen ca. 7.000 Einwohner auf einen Facharzt, in Brandenburg sind es dagegen 26.000. Wünschenswert ist weiterhin eine bessere Abstimmung an den Schnittstellen von der Klinik in den niedergelassenen Bereich im Sinne einer integrierten Versorgung.
Trotz des wachsenden Kostendrucks sollte auch eine moderne, auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittene Arzneimitteltherapie weiterhin allen Patienten offen stehen. Eine bessere Früherkennung von psychischen Erkrankungen insbesondere bei Kindern und Jugendlichen könnte helfen, schweren Krankheitsverläufen von vorneherein vorzubeugen. Darüber hinaus gilt es auch ganz allgemein, den offenen Umgang der Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen zu fördern. Denn auch heute noch stehen z. B. Menschen mit Schizophrenie vielen Vorurteilen gegenüber, die ihre Integration erschweren und sie oftmals sogar davon abhalten, frühzeitig ärztliche Hilfe aufzusuchen.