Das essentielle Spurenelement Selen erfüllt im menschlichen Körper vielfältige Funktionen: Als Bestandteil körpereigener Redoxsysteme - allen voran der spezi-fischen Seleno-Enzyme Glutathionperoxidase und Thioredoxinreduktase - übernimmt es wichtige oxidative Schutzfunktionen, verbessert die Immunkompetenz und ist daran beteiligt, in Tumorzellen ein Selbstmordprogramm (Apoptose) auszulösen. Zahlreiche pharmakologische, tierexperimentelle und klinische Daten sprechen dafür, dass sich die genannten Fähigkeiten des Spurenelements zur Vorbeugung und Behandlung von Krebserkrankungen nutzen lassen.
Die tumorpräventiven Wirkung von Selen kann heute nicht mehr ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Studiendaten aus 30 Jahren belegen eindeutig den Zusammen-hang zwischen schlechter Selenversorgung und erhöhter Krebsinzidenz. So zeigen etwa große prospektive Studien der 80er und 90er Jahre, dass ein niedriger Selen-Status mit einem zwei- bis sechsfach erhöhten Krebsrisiko einhergeht. Interventions-studien aus China belegen, dass die Krebsinzidenz – in diesem Fall die des hepatozellulären Karzinoms – deutlich reduziert wird, wenn die Nahrung mit Selen in Form von Natriumselenit supplementiert wird. Die aussagekräftigste Studie zur tumorpräventiven Wirkung von Selen ist die 1996 veröffentlichte Clark-Studie. In der plazebokontrollierten Doppelblindstudie an 1300 Patienten mit behandeltem Nichtmelanom-Hautkrebs konnte gezeigt werden, dass eine Supplementation von 200 µg Selen pro Tag die Gesamt-Krebsinzidenz ebenso wie die Krebsmortalität dramatisch zu senken vermag. Experten wie die britische Ernährungswissen-schaftlerin Margret Rayman schließen aus diesen Ergebnissen, dass gerade in Selen-Mangelgebieten wie Deutschland besonders sorgfältig auf eine gute Selen-versorgung der Bevölkerung geachtet werden sollte (Lancet, 2000). Durch Supple-mentation des Spurenelements könne malignen Erkrankungen auf einfache Weise vorgebeugt werden.
Auch in der Behandlung manifester Krebserkrankungen hat Selen einen hohen Stellenwert. Mittlerweile ist die Selentherapie integraler Bestandteil einer ganzheitlichen supportiven Onkotherapie. Die antitumorale Wirksamkeit des Spurenelements konnte mittlerweile am Tiermodell, aber auch beim Menschen vielfach belegt werden. So zeigt eine multizentrische Anwendungsbeobachtung an 570 Tumorpatienten, dass die tägliche Einnahme von 200 µg Natriumselenit (Cefasel® 100 µg) bei knapp 70 Prozent der Patienten zu einer deutlichen Verbesserung der Beschwerden oder gar zur Symptomfreiheit führte.
In die gleiche Richtung weist ein mehrjähriges Modellprojekt, das in einer onkolo-gisch geführten Praxis und Tagesklinik in Düsseldorf durchgeführt wurde. Das Projekt zeigt, dass Natriumselenit, eingebettet in ein komplexes Therapiekonzept aus Spurenelementen, Vitaminen und proteolytischen Enzymen, das Leben von Krebs-patienten verlängert und deren Lebensqualität verbessert. Im Rahmen der Unter-suchung hatten 417 Patienten unterschiedlicher Krebsentitäten zusätzlich zur konventionellen Behandlung eine Basistherapie aus Natriumselenit (Cefasel® 100 µg, normale Dosis 100 µg täglich, in Belastungssituationen wie Operation, Chemo- oder Strahlentherapie 300 µg täglich), Vitaminen, Spurenelementen und proteoly-tischen Enzymen erhalten. Die Zwischenauswertung der Untersuchung nach 36 Monaten ergab im Vergleich zu einer historischen Kontrolle konventionell behandel-ter Patienten (Saarländer Krebsregister) einen deutlichen Trend hin zu einer verlän-gerten Überlebenszeit und einer besseren Lebensqualität. Angesichts dieser Daten ist Selen für Studienleiterin Dr. Elsbeth Rethfeldt “ein Muss in der Therapie und Prävention von Krebserkrankungen”. Die Ärztin sieht die therapeutischen Einsatz-gebiete von Selen vor allem prä- und postoperativ im Sinne einer Ödemverringerung und Metastasenprophylaxe sowie begleitend zu einer Strahlen- und/oder Chemo-therapie. Aus heutiger Sicht würde die Ärztin ihren Patienten in Belastungs-situationen wie der Chemotherapie allerdings eine höhere Tages-Selendosis - nämlich 1000 µg - verabreichen.
Dass Selen Krebszellen auf effektive Weise den Kampf ansagt – das ist klinisch eindeutig belegt. Wie diese Wirksamkeit allerdings auf zellulärer und molekularer Ebene zustande kommt, war lange Zeit nur ansatzweise verstanden. Heute sieht man in dieser Hinsicht klarer: Anhand von Literaturdaten lassen sich heute ver-schiedene Wirkmechanismen des Spurenelements belegen, die allesamt eine Krebs-therapie günstig beinflussen können. Interessant ist dabei, dass die Effekte von Selen in der Onkotherapie zwar zum großen Teil auf seiner viel diskutierten Wirk-samkeit als Radikalfänger beruhen, jedoch über die reine Interaktion mit antioxi-dativen Schutzsystemen hinausgehen.
Eine simultane Aktivierung all dieser Mechanismen durch Selen bewirkt, dass der Organismus auf mehreren Ebenen – quasi im Rahmen einer konzertierten Aktion – gegen die Krebszellen vorgehen kann.
Doch Selen ist offenbar viel mehr als ein antitumoral wirksames Spurenelement. Denn Selen, so weiß man heute, geht nicht nur gegen Tumorzellen vor, sondern schützt gleichzeitig gesunde Körperzellen vor Schäden durch eine konventionelle Krebstherapie demzufolge profitieren Krebspatienten, die begleitend zu einer Strahlen- oder Chemotherapie Natriumselenit erhalten, nicht nur von der Anti-Krebs-Wirkung des Spurenelements, sondern auch von dessen Schutzeffekt gegenüber Radiatio und Chemotherapie. Die Erklärung für dieses Phänomen: Aufgrund seines antioxidativen Potentials unterstützt Selen den Organismus bei Entsorgung freier Radikale, die unter einer Chemo- oder Strahlentherapie in großer Menge gebildet werden.
Der chemoprotektive Effekt des Spurenelements ist mittlerweile durch zahlreiche in vitro- und in vivo-Untersuchungen belegt. So konnte beispielsweise Sieja (1998) zeigen, dass Frauen mit Ovarialkarzinom, die unter einer Chemotherapie standen, von der täglichen Gabe von 200 µg Selen profitierten. Erfahrungen aus der klinischen Praxis bestätigen die selenbedingte Schutzwirkung von Körperzellen gegenüber Zytostatika auch bei anderen Krebsarten. Untersuchungen am Tiermodell belegen ebenfalls, dass eine gezielte Vorbehandlung der Tiere mit Natriumselenit uner-wünschte Nebenwirkungen bestimmter Chemotherapeutika wie Adriamycin (Kardio-toxizität) oder Cisplatin (Nephrotoxizität) deutlich vermindert.
Auch Krebspatienten, die unter einer Radiotherapie stehen, profitieren von der zusätzlichen Verabreichung von Selen. Zahlreiche in vitro- und in vivo-Daten belegen den radioprotektiven Effekt des Spurenelements. So behandelten etwa Hehr et al. (1997) Patientenmit fortgeschrittenem Rektumkarzinom, die unter einer Radio-chemotherapie standen, zusätzlich mit Selen. Nach jedem Zyklus der Chemotherapie mit Fluorouracil erhielten die Patienten täglich 2000 und nach jeder Bestrahlung des Tumors und der Lymphknoten 400 µg Natriumselenit. Einmal wöchentlich wurde untersucht, ob sich die Selenbehandlung positiv auf die Lebensqualität der Patienten auswirkte. Von besonderem Interesse waren dabei die Parameter Durchfall, Dysurie, Hunger Appetit, Übelkeit und Erbrechen. Die Autoren kamen in ihrer Untersuchung (die nach eigenen Angaben noch vorläufigen Charakter hat) zu dem Ergebnis, dass sich ein radioprotektiver Effekt von Selen sowohl auf in vivo- als auch auf in vitro-Ebene belegen lässt.
Rodemann et al. setzten 1999 die Studien über die Radioprotektion von Selen fort. Die Wissenschaftler führten in vitro-Experimente an kultivierten Plattenepithel-karzinom-Zellen und normalen Haut-Fibroblasten durch. Sie bestrahlten beide Zelltypen in Anwesenheit von Natriumselenit nach einem bestimmten zeitlichen Schema.
Dabei stellte sich heraus, dass die Fibroblasten unter dem Einfluss des antioxidativ wirksamen Spurenelements vor den Auswirkungen der Strahlung geschützt waren, nicht jedoch die Krebszellen. Auch Schleicher et al. konnten 1999 an kultivierten Zellen zeigen, dass Natriumselenit die strahleninduzierte Wachstums-hemmung humaner Endothelzellen praktisch aufhob, während Tumorzellen durch das Spurenelement nicht vor Strahlenschäden geschützt wurden.
Diese Ergebnisse sind von großer Bedeutung für die komplementäre Onkotherapie. Denn sie entkräften die lange gehegte Befürchtung, Antioxidantien wie Selen schützten auf der einen Seite zwar Körperzellen vor Radikalschäden, machten auf der anderen Seite aber gleichzeitig die Wirkung konventioneller Therapien zunichte (die ja ihre zelltoxische Wirkung in der Regel ebenfalls über eine Bildung freier Radikale entfalten können). Die Daten von Rodemann et al. und Schleicher et al. belegen jedoch, dass der radioprotektive Effekt des Selens sich allein auf normale, nicht maligne veränderte Zellen beschränkt. Mit anderen Worten: Strahlenschäden an Krebszellen, die therapeutisch erwünscht sind, werden durch die Anwesenheit von Selen nicht vereitelt.
In jüngster Zeit mehren sich die Hinweise darauf, dass Selen die tumordestruktive Kraft konventioneller Therapien sogar noch effektiver machen kann. Aktuellen Untersuchungen zufolge kann die frühzeitige Gabe von Selen verhindern, dass sich Resistenzen gegenüber Zytostatika ausbilden. Selbst wenn sich die Resistenz bereits ausgebildet hat, vermag Selen die Tumorzellen wieder gegen das Chemo-therapeutikum zu resensibilisieren. Dabei kommt offensichtlich ein dualer Wirk-mechanismus des Spurenelementes zum Tragen. Einerseits übt Selen einen hemmenden Einfluss auf das Enzym Glutathion-S-Transferase aus, welches bei resistenten Krebszellen übermäßig aktiv und offenbar direkt an der Resistenz-entwicklung beteiligt ist. Andererseits bildet Selen mit freiem reduzierten Glutathion, das bei resistenten Tumorzellen ebenfalls im Übermaß vorhanden ist, die Verbindung Selenodiglutathion (GS-Se-SG). Das führt dazu, dass in der resistenten Krebszelle die Menge an freiem reduziertem Glutathion permanent vermindert wird – und zwar so lange, bis die oxidative Abwehr der Zelle zusammenbricht. Schließlich wird in der bereits vorgeschädigten Tumorzelle der programmierte Zelltod ausgelöst – was ihr endgültig den Todesstoß versetzt.