Weil früher Westkultur verboten war, holen viele ältere Chinesen nun beim Tanzen ein Stück Jugend nach und in den Parks von Peking plätschert der Jungbrunnen frühmorgens aus tragbaren CD-Playern.Unser Reiseautor Carsten Heinke hat es für Sie erlebt und aufgeschrieben.
Dann fällt die erste Mahlzeit eben aus! Doch ausgerechnet an diesem Morgen, wo das Shangri-La-Hotel zu einem original chinesischen Frühstück geladen hat? Mit gefüllten Dampfnudeln und „Jahrhunderteiern”? Ja, egal. Es ist die einzige Möglichkeit, die einzige Lücke, die das vollgestopfte Peking-Programm erlaubt. Und man muss ganz früh dort sein, wenn man es richtig erleben will, hat Herr Chang gesagt. Ebenfalls noch etwas zerknittert, wartet der junge Manager von China Tours schon vor der Tür. Er schlägt vor, ihn Michael zu nennen, weil Nichtchinesen seinen richtigen Vorname sowieso nicht aussprechen könnten. Ein paar verzweifelte Versuche. Ok, dann also Michael Chang. Das Taxi steht bereit. Der Fahrer schläft und schnarcht. Höflich wird er geweckt und gebeten: „Zum Park des Himmelstempels, bitte.”
Mit halb geschlossenen Augen setzt der müde Taximann den Wagen in Bewegung und lässt ihn ohne allzu große Eile durch die noch fast autoleeren Straßen der chinesischen Hauptstadt rollen. „In spätestens drei Stunden ist hier wieder alles dicht”, kommentiert Michael die nur selten so ruhige Verkehrslage der 16-Millionen-Metropole. Als wollten Autos die Fahrradflut von einst ersetzen, wächst unaufhörlich ihre Zahl. 3,1 Millionen seien es bereits - trotz „Verkehrsregelungen” wie Benzinzuteilung oder eintägiges Fahrverbot pro Auto und Woche. „Während der Olympiade durfte man sogar nur an Tagen mit gerader oder ungerader Datumszahl fahren, je nach Endziffer des Kennzeichens”, berichtet der 29-Jährige.
Die Morgensonne taucht die Riesenstadt in gelbes Licht. Das Taxi hält vor einem breiten Parktor. Von allen Seiten strömen Menschen hinein. Der Fahrer nimmt das Geld und macht die Augen wieder zu. Die frühe Kühle regt zum zügigen Laufen an. Das Tempo passt zu dem der anderen, bringt die Zaungäste ein paar Schritte lang auf Augenhöhe mit den Frauen und Männern, deren Gang und deren Haltung das tägliche Training verraten. Jünger als Mitte 50 ist kaum jemand von ihnen. Hinter dicken Jacken, unter Mützen und Kapuzen stecken Lebensfreude, Kraft und Schönheit. Jugend, der das Alter nichts anhaben kann. Auch nach 70 oder 80 Jahren nicht.
Wer keine Dauerkarte hat, stoppt kurz an einem Ticketschalter. Kontrolle im Vorbeigehen, sogar mit einem Lächeln. Früh morgens, fünf nach sechs. Der Park des Himmelstempels. Sein höchstes Gebäude, auf einem Hügel thronend, ist Qiniandian, die Halle der Ernteopfer. Wie ein bunt bemalter Baumkuchen reckt sich der runde, dreigeschossige Turm über Kiefernwipfel und kahle Gingkokronen. Kein einziges Stück Metall, nicht mal ein Nagel, wurde für das 38 Meter hohe Bauwerk verwendet.
„Über Jahrhunderte nutzte man den Tempel nur ein einziges Mal im Jahr, wenn die Ming- und Qing-Kaiser den Himmel für eine reiche Ernte anbeteten”, erklärt Michael. Heute, knapp 600 Jahre nach seiner Entstehung, wird Chinas größter Tempelkomplex täglich rege gebraucht. Wenn es religiöse Motive sind, die die Menschen hierher treiben, dann müssen Bewegung, Sport und Spiele in ihrer Religion etwas Heiliges sein. Vielleicht liegt die Anziehungskraft eines Parks mitten im Beton-Moloch Peking aber auch in seiner Eigenschaft als Naturraum begründet. Er ist eine Grünfläche, 270 Hektar groß.
Peitschenknallen. Händeklatschen. Schreie aus allen Richtungen. Kurze und längere, mal höher, mal tiefer. Michael amüsiert sich über das verdutzte Gesicht seines Begleiters. „Alles Übungen”, verrät er. Die einen seien gut für Konzentration, Kraft und Beweglichkeit, die anderen für die Atmung. Ganz nach Glaubenslehre, Philosophie oder Geschmack praktiziere jeder eigene Wege und Techniken.
Zielstrebig und flink, doch ohne Hast, verlieren sich Gymnastiker und Schattenboxer, Athleten und Artisten in den Weiten des Geländes. Als hätte ihnen jemand ins Ohr geflüstert: „Nehmen Sie Ihre Positionen ein!” Schon wenige Minuten nach Öffnung des Parks sind alle größeren Plätze belegt. Immer mehr kommen und machen mit, reihen sich in die vorhandenen Formationen ein oder bauen neue auf.
Am „Stein der sieben Sterne” wartet eine Gruppe auf Herrn Yang. Er ist für die Technik verantwortlich. Endlich kommt er - mit dem Fahrrad, denn seine Rikscha ist kaputt. Auf der einen Seite seines Lenkers baumelt ein CD-Player, auf der anderen ein geheimnisvoller Leinenbeutel. Als er bemerkt, dass ihn eine Langnase (so werden Europäer in China genannt) beobachtet, ist sich der ehemalige Militäringenieur der Überraschung sicher. Spitzbübisch holt er wie bei einer Zaubernummer den Käfig hervor.
Ein winziges Vöglein sitzt darin, eine Meisenart. „Er begleitet mich jeden Morgen in den Park, freut sich über die frische Luft, das Schaukeln im Wind und die Stimmen der anderen Vögel”, erklärt der 71-Jährige. Behutsam hängt er den runden Bauer an einem Baum, schiebt die CD in das batteriebetriebene Gerät und stellt sich auf seine Position.
Eine blecherne Frauenstimme erklingt. Die Situation erinnert an die Lautsprechergymnastik, die die chinesische Regierung in den 50er Jahren in Schulen, Betrieben, Parks und auf öffentlichen Plätzen eingeführt hatte, um allen gleichermaßen die Chance auf eine gesunde Entwicklung zu geben. „Als Schüler hasst man es natürlich, gewöhnt sich aber dran, und es wird zum Bedürfnis, weil man besser lebt”, weiß Michael, der sich noch gut an den Pausensport in der Schule erinnert.
Der CD-Player spricht vom Qi, der inneren Energie, die ungestört durch den ganzen Körper fließen soll, um die Gesundheit zu kräftigen. Mit konzentrierten, anmutigen Bewegungen folgen Herr Yang und seine Mitstreiter den Anweisungen der unsichtbaren Dame. Michael weiß: „Das ist Hun Yuan Qi Gong, eine Lehre, die auf den taoistischen Arzt Hu Yao Zhen zurückgeht. Mit dieser speziellen Art von Qi Gong, was soviel wie ´Übung für die Lebensenergie´ bedeutet, wird das völlige Einssein mit dem Kosmos angestrebt.” Trotz dieses unbescheidenen Anspruchs seien die erforderlichen Atem- und Gymnastikübungen leicht erlernbar. Auch das Vöglein von Herrn Yang lässt seiner Energie freien Lauf. Es will wohl mit in den Kosmos, oder wenigstens aus dem Käfig heraus.
Vorbei an Leuten, die einen Ball mit bunten Bändern auf kleinen Tennisschlägern balancieren, geht es weiter - zu einem Spielplatz? Nein, es ist der Geräte-Übungsgarten, ein Freiluft-Fitnessstudio. Auf einem Schild am Rand ein Präsidentenwort von 1997: „Treibt Sport! Das ist gut für Staat und Volk - jetzt und in 1000 Jahren”.
Eine 76-jährige Dame und zwei Herren, 87 und 78, trainieren Muskeln und Gelenke auf drehbaren Sitzen. „Für Rücken und Hüftgelenk. Wir wollen doch nicht einrosten”, erklärt Herr Xiang, der Älteste der drei. „Es ist schön, dass wir diesen Park haben. Es gibt in Peking mehr als 20, aber der hier ist der beste. Wir haben es nicht weit, nur eine Busstation. Ich stehe um fünf auf. Um sieben treffen wir uns hier. In einer Stunde schaffen wir alle Geräte einmal. Nach dem Sport gehe ich frühstücken und besuche Freunde. Wir spielen Schach oder schauen zusammen fern. Mittags schlafe ich eine Stunde, danach setze ich mich an den PC”, plaudert der 87-Jährige.
Frau Yuan hat es sich auf einer Bank im Spagat bequem gemacht. Mit 61 gehört sie zu den jüngsten auf dem Platz. „Früher hab ich Medikamente genommen, seit ich nicht mehr arbeite, treibe ich Sport, vor allem Yoga und Tai Ji”, sagt die zweifache Mutter und mehrfache Siegerin von Tai-Ji-Wettbewerben, früher Resozialisierungbeamte für Strafgefangene. Die Übungen habe sie alle aus dem Fernsehen gelernt.
Ein paar Regentropfen fallen. Niemand berührt das. Vom Wetter lasse sie sich nicht beeindrucken, meint Frau Yuan: „Wenn es stark regnet oder schneit, ziehen wir unters Dach.” Das gehört zum Wandelgang zwischen Östlichem Himmelstor und der Halle der Ernteopfer, an sonnigen Tagen eine Spiel- und Bastelstraße. Von früh bis spät wird dort gehäkelt, gewürfelt, gepokert und gezockt. Anti-Aging durch Spielspaß und Handarbeiten.
Acht Uhr. Szenenwechsel am „Stein der sieben Sterne”. Wo eben noch Qi Gong geübt wurde, erklingen Walzer- und Tangomelodien. Der beliebteste Weg, seine Energien fließen zu lassen, scheint neuerdings das Tanzen zu sein. Nach westlicher Musik, die früher in ihrem Land genauso verboten war wie sich danach zu bewegen oder bunte Kleidung zu tragen, zelebrieren Menschen aller Altersklassen mit Konzentration und Hingabe ihr Körperbewusstsein. Trotz perfekter Schritte und Figuren bestreitet Li, dass es hier um Show und Aussehen gehe. „Es ist mein Sport, und ich bin glücklich dabei, fühle mich frei, lebendig und gesund. Wenn ich tanze, bin ich wieder jung. Dann hole ich nach, was ich damals nicht konnte”, sagt die 68-Jährige.
„Wir müssen”, sagt Michael mit strengem Blick zur Uhr. Auf dem Rückweg gerät der Plan, Qi Gong zu lernen, ins Wanken. Vielleicht doch lieber Tango? Im Shangri-La bekomme wartet sogar noch das Local Breakfast, das wie alle anderen Speisen in diesem Land so überhaupt nichts mit europäischem Chinaessen zu tun hat. Die maultaschenartigen Dampfnudeln sind köstlich, die „Jahrhunderteier” eine kulinarische Herausforderung. Zwar sind sie nicht ganz hundert Jahre alt, riechen aber so. In einem Brei aus Asche, Kalk, Lehm, Salz und Reisstroh werden sie durch Fermentierung so lange konserviert, bis ihr Eiweiß braun und ihr Eigelb grün sind. Li und Herr Yang essen das jeden Tag und tanzen noch mit 87. Also runter damit. Es gibt Leckereres, und es gibt Schlimmeres. „Euer Käse stinkt auch”, sagt Michael. Und da hat er Recht.
Anreise: z. B. mit Air China ab Frankfurt a. M. ab 475 Euro, www.airchina.de
Übernachtung: z. B. Superluxus zum kleinen Preis - das Weekend Special im Shangri-La China World Peking (fünf Sterne) für 126 Euro die Nacht, www.shangri-la.com
Pauschalreisen: China Tours Hamburg bietet z. B. „Boomtown Peking” ab 1.050 Euro oder „Supercity Shanghai” ab 1.199 Euro (je 8 Tage) oder 9 Tage Peking, Xi´an und Shanghai ab 1.190 Euro, Tel. 040/ 81 97 38 0, www.chinatours.de oder Thomas Cook
Die Reise China Symphonie führt Gäste zusätzlich nach Peking, Shanghai und Xi´an (die Stadt der Vergangenheit) und somit in die drei wichtigsten Städte der Volksrepublik: 9 Reisetage, Städtekombination Peking, Xi´an und Shanghai ab 1.190 Euro pro Person.
Link zur Reise: ChinaTours Städtereisen