In Europa machte diese alte Tradition der chinesische Food-Artist Xiang Wang, zweifacher Weltmeister im Obst- und Gemüseschnitzen, populär. Geholfen hat ihm dabei eine Handvoll enthusiastischer Schüler wie etwa die Döbelner Verkäuferin Annett Gruhle oder Catering-Mitarbeiterin Stephani Lübke aus Nerchau im Muldentalkreis. Sie gehören zum bundesweit aktiven Xiang Wang Food Artistic e. V., der seinen Sitz im erzgebirgischen Grünhain-Beierfeld hat. Zusammen mit der Leipziger Fachmesse GÄSTE richtet der Verein vom 4. bis 6. September 2011 den 1. Europäischen Wettbewerb im Obst- und Gemüseschnitzen aus. Einige der imposantesten Werkstücke dazu kommen aus der Nähe von Torgau – aus dem „Kürbisdomizil“ in Zwethau.
Mit geübten Fingern setzt Jörg Schmidt die zarten grünen Pflänzchen in die Erde. Viele hundert sind es schon, in vielen langen Reihen. Bald werden ihre krautigen Stiele und Blätter das ganze Feld bedecken. Und bald wachsen dicke Kürbisse daran. Die meisten davon enden wohl im Kochtopf, viele auch als Halloween-Gespenst. Den größten und schönsten Bewohnern des „Kürbisdomizils“ in Zwethau allerdings steht eine ganz andere Karriere bevor: Sie werden einmal Obst- und Gemüseschnitzern als Material für ihr fruchtig-knackiges Kunsthandwerk dienen – so, wie auch Möhren und Kohlrabi, Chinakohl und Rote Beete, Äpfel, Mango und Melonen und vieles andere mehr.
Insgesamt 32 internationale, im deutschen Einzelhandel erhältliche Obst- und Gemüsearten werden bundesweit von zirka 40 Frauen und Männern nicht vordergründig als Salatzutat betrachtet. Für sie sind die vitaminreichen Produkte kreatives Arbeitsmaterial – der Stoff, aus dem Lebensmittelkünstlerträume sind. Zwei dieser ungewöhnlichen Kreativen sind die Inhaber des kleinen Landwirtschaftsbetriebs bei Torgau, zu dem auch eine „Kreativschmiede“ gehört. „Die ersten 50 selbst angebauten Kürbisse vor sechs Jahren waren nur für den Eigenbedarf bestimmt“, erzählt der gelernte Koch Jörg Schmidt, der diese erste Ernte damals unter anderem zu köstlichem Kürbisstollen verarbeitete. Auf der Suche nach neuen Ideen für seine Büfetts entdeckte er zusammen mit seiner Frau Andrea die uralte asiatische Kunst, Garten- und Feldfrüchte mit dem Schnitzmesser in wundervolle Blumen, Tiere und Fantasiefiguren zu verwandeln. Gelernt hat sie das Ehepaar bei keinem Geringerem als dem zweifachen Weltmeister im Obst- und Gemüseschnitzen, Xiang Wang, der seine Laufbahn einst als Kochartist in den Küchen von Mao Zedong begann.
Ausgerechnet eine Fleischtechnikerin aus Auma in Thüringen half dem preisgekrönten Obst- und Gemüse-Künstler aus Peking, sein Wissen und Können in Deutschland zu verbreiten, indem sie ihm half, Seminare zu organisieren. Selbst hatte sich Konstanze Töpel den „Schnitz-Virus“ 1996 in München eingefangen – als sie den ersten Kurs bei Xiang Wang belegte. „Ich hatte Fotos gesehen von geschnitzten Früchten, die wie echte Blumen und Tiere aussahen und war sofort fasziniert. Das wollte ich auch können“, erzählt die freiberufliche Verkaufstrainerin, die inzwischen viele Menschen mit ihrer Begeisterung angesteckt hat.
Zu ihnen gehört die 29-jährige Stephanie Lübke aus Nerchau im Muldentalkreis. Nach ihrer Ausbildung zur Hauswirtschafterin begann sie bei einem Catering-Unternehmen zu arbeiten, bei dem sie bis heute angestellt ist. Seit sie bei Wang gelernt hat, wie man Rettiche zu Vögeln schneidet oder Möhren als Rosen erblühen lässt, kann ihr Arbeitgeber seinen Kunden kunstvoll geschnitzte Obst- und Gemüseskulpturen als Deko fürs kalte Büffet anbieten.
„Auf die Idee brachte mich meine Mutter, die davon in einer Fernsehsendung erfahren hatte. Sie schenkte mir auch das erste Schnitzmesser-Set und fand das Kursangebot im Internet“, erinnert sich die junge Frau, die am allerliebsten schnitzt, wenn ihr dabei niemand auf die Finger schaut. Stephanis Repertoire reicht von Zwei-Minuten-Gurken-Fröschen bis zu drei und mehr Stunden dauernden Apfel-Kürbis-Kompositionen.
Dass die fernöstliche Lebensmittelkunst in den neuen Bundesländern besonders gute Resonanz fand, begründet Konstanze Töpel so: „Viele Handwerksbetriebe hier mussten sich nach der Wende neu erfinden, Serviceunternehmen wurden erst gegründet. Die dringend benötigten Alleinstellungsmerkmale fanden einige in den künstlerisch gestalteten Produkten.“
Wenn im Restaurant der Villa Theodor gefeiert wird, gehören die aus Kürbis, Papaya, Rettich und Melone geschnitzten Körbe, Kakadus und Rosen zu den Stars auf Tafel und Buffet. „Unsere Gäste schätzen das sehr“, sagt Rainer Wiesner, Inhaber des kleinen Hotels im erzgebirgischen Grünhain-Beierfeld. Der Koch, Hotelier und Gastwirt schnitzt seit über zehn Jahren Obst und Gemüse. „Es kostet viel Zeit und ist für mich eher ein Hobby, das ich neben meiner eigentlichen Arbeit betreibe“, erzählt der 60-Jährige, der dem chinesischen Meister bei drei Kursen auf die geschickten Finger schaute. Zwei, drei Jahre habe er insgesamt zum Lernen gebraucht. Mindestens einmal die Woche trainiert Wiesner seine Fertigkeiten im Umgang mit Schnitzmessern und -meißeln, um nicht aus der Übung zu kommen.
Für Annett Gruhle liegt des Kürbis’ Kern in dessen Eigenschaft als Blumenkorb. Denn neben Schwanenpaaren aus Kohlrübe schnitzt die Fleischfachverkäuferin aus Döbeln am liebsten Blüten: Rosen aus Roter Beete, Dahlien aus Kohlrabi, Callas aus Fenchel, Chrysanthemen aus Chinakohl. Aus Ingwer und Radieschen zaubert sie Korallen. Mittlerweile wurde aus dem Hobby ein Nebengewerbe, in dem sie ihr zweites Standbein sieht. „Mein Kundenkreis reicht von der Rentnerin bis zur Hochzeitsgesellschaft, mein Repertoire vom Mitbringsel zum Kaffeekränzchen bis zur Dekoration von Festtafeln und Buffets“, sagt die 42-Jährige. Und: „Wenn ich selber zum Geburtstag gehe, nehm ich immer selbstgeschnitzte Blumen mit.“
Ihre Schnitzkunstlaufbahn begann Annett Gruhle mit einem srilankischen Kochbuch und Holzschnitzwerkzeug aus dem Baumarkt. Bei einem ersten Wettbewerb mit fünf Teilnehmern belegte sie immerhin den vierten Platz und fand schließlich auch den Weg zu Meister Xiang Wang und seinem „Dream-Team“, dem Vorläufer des vor zwei Jahren gegründeten Xiang Wang Food Artistic e. V. mit Sitz in Grünhain-Beierfeld (Sachsen).
Annett Gruhle und Rainer Wiesner waren dabei, als in Vorbereitung auf einen Guinessbuch-Rekordversuch zur GÄSTE 2003 während eines Schnitzseminars in Schönheide/Erzgebirge das Xiang Wang Dream Team gegründet wurde. Das weltgrößte Kunstwerk aus geschnitztem Obst und Gemüse kam damals zwar nicht zustande, doch die Leipziger Fachmesse für Gastronomie, Hotellerie und Gemeinschaftsverpflegung wuchs mit den Food-Artisten um eine Attraktion, die mittlerweile zu den festen Größen der alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltung gehört.
Höhepunkt der diesjährigen Ausgabe der GÄSTE vom 4. bis 6. September 2011, bei der die Mitglieder des Xiang Wang Food Artistic e. V. für ein knackig-fruchtig-buntes Rahmenprogramm sorgen, wird ein erster „Europäischer Gemüseschnitzwettbewerb“ nach einheitlichen Richtlinien sein. Dazu haben sich bislang Einzelkämpfer, Teams und Junioren aus zwölf europäischen Ländern gemeldet. „Außer durch ein mitgebrachtes Schaustück müssen die Wettbewerbsteilnehmer ihr Können bei einem vierstündigen Liveschnitzen beweisen, ebenso durch kreative Garnituren für einen Teller und zwei Cocktails“, erläutert Konstanze Töpel. Bis auf letztere sind alle Schnitzkunstwerke nicht zum Verzehr gedacht.
Das meiste, was jetzt auf dem Feld in Zwethau wächst, darf und soll im Herbst gegessen werden, denn Kürbis schmeckt nicht nur, sondern ist zudem gesund. Dazwischen reift das edle Schnitzgut. Alles in allem holen die Schmidts von dem knapp vier Hektar großen, teils von Hand bestellten Acker im Jahr bis zu 70 Tonnen Kürbis in 150 Sorten, dazu noch jede Menge Zierkürbisse. Abnehmer sind neben Food-Artisten und Privatleuten viele Gastbetriebe, darunter die Mövenpick Marché Restaurants.
Gemüseschnitzer aus Deutschland können sich unabhängig von einer Vereinsmitgliedschaft direkt bei Konstanze Töpel vom Xiang Wang Food Artistic e. V. (E-Mail: k.t.beratung@t-online.de) für einen Startplatz in der deutschen Mannschaft bewerben. Endgültiger Anmeldeschluss ist der 30. Juli 2011. Alle Unterlagen sind im Internet unter www.gaeste.de verfügbar.