Von Capri direkt nach St. Gallen zieht vor 150 Jahren Viktor von Scheffel und dichtet daraufhin einen der meistgelesenen Romane der deutschsprachigen Literatur: Ekkehard. Hunderte Male aufgelegt, Zig-Millionen Exemplare, verfilmt, inzwischen sogar vertont. Es ist für keine Region dieser Erde leicht, mit Capri zu konkurrieren. Scheffel scheut den Vergleich nicht.
Dort, wo es dem angelsächsischen Missionar Gallus gefallen hat, wo er sich „in helvetischer Einöde festsetzte”, dort hat Capri laut Scheffel sein Pendant: „Ein hochgelegenes Tal, durch dunkle Bergrücken von den milderen Gestaden des Sees gesondert, steinige Waldbäche brausen vorüber, und die riesigen Wände des Alpsteins, dessen Spitzen mit ewigem Schnee umhüllt im Gewölke verschwinden, erheben sich als schirmende Mauer zur Seite.”
In St. Gallen verfolgt Scheffel die größte Neuerung im Land: „Heute bauen die Enkel jener Heiligen den Schweizern für gutes eidgenössisches Geld die Eisenbahn.” Und wenn er das Kloster St. Gallen von allen Seiten beleuchtet, vergißt er nicht die Sakristei der Kirche: „War auch manches darauf abgebildet, was noch nahe ans römische Heidentum anstreifte, zum Beispiel die Hochzeit des Mercurius mit der Philologie.”
Merkur, das ist der Götterbote mit den Ressorts Handel und Verkehr, der nach den Mustern von heute auch für die Eisenbahn zuständig wäre. Wir finden ihn in der alten Handelsstadt an einigen Häusern, auf dem Weg zum Bahnhof hin ist er unübersehbar präsent. Und es erstaunt schon sehr, wenn man erfährt, ausgerechnet dem Mönch Notker von St. Gallen gelingt es im Kampf gegen die heidnischen Bezeichnungen der Wochentage vor tausend Jahren, den Tag des Merkur (italienisch mercoledi; französisch mercredi) in Mittwoch umzubenennen. Alle anderen Versuche, die Götter aus dem Kalender zu hebeln, bleiben auf Dauer erfolglos.
Heute erinnert in St. Gallen noch immer der Klosterbezirk an die uralten Epochen. In der von Handschriften und Inkunabeln überladenen Bibliothek werden die Deckengemälde von Hunderten (wenn nicht Tausenden) von Männern beherrscht. Ja, wenn da nicht die keusche Jungfrau Maria wäre und an den Frontseiten weibliche Leichname, dann käme man auf die Idee, man müsse auf die Erschaffung der Eva immer noch warten. Das dem dann doch nicht so ist, beweist Schep-en-ese, die Tochter eines ägyptischen Priesters, deren fast 3000 Jahre alte Mumie seit 1820 diese edle Bücherei ziert.
Man rutscht hier in großen Filzpantoffeln auf und ab, Photoapparate hatte man vorher in Schließfächern zu verstauen, und die Führerin erzählt von den Zeiten, als sich der heilige Gallus in der Wildnis der Umgebung aufhält, von seinem putzigen Bären und asketischen Leben, von Konzilien und von den Äbten, die dieses Kleinod aus Büchern, Buchenholz und Bildern in Auftrag geben. Ein generöser Ruheraum in hektischer Zeit!
Auf Behaglich- und Langsamkeit wird der Reisende allerdings schon bei der Anreise im Zug vorbereitet, ein wahrer Bummelzug von München aus, der an nichtplanmäßigen Stationen hält und eine halbe Ewigkeit in Lindau verweilt. Doch alles soll in wenigen Jahren besser werden, erheblich besser. Auf Einladung der Deutschen Bahn und des Schweiz Tourismus München präsentieren deren Vertreter vor der Presse ein logisches Konzept: In Südostbayern wird das Streckennetz erheblich modernisiert und der Inselbahnhof Lindau ausgeklammert werden. Das heißt, man sitzt bald eine ganze Stunde weniger im Abteil.
Das Ziel St. Gallen lohnt nämlich von jeher. Die Wanderungen auf den Vorbergen der Umgebung gehören zu den reizvollsten Partien, und man versteht plötzlich Viktor von Scheffel. Da vereinen sich die gewaltigen Elemente der Natur und lassen den Menschen nicht mehr aus dem Staunen heraus. Zwischen Bodensee und Säntis (2503 Meter) erlebt man die schönsten Seepromenaden, grandiose Fachwerkhäuser, satte Almwiesen, einladende Berghütten, einen köstlichen „Witzweg” (Wandertafeln mit Witzen auf Schwyzerdütsch und Hochdeutsch) und im gehörigen Abstand Schneemassen weit in das Frühjahr hinein und schon früh im Herbst.
Nicht nur Scheffel ist ein Garant der lebens- und liebenswerten Gefilde, auch der in Genf geborene Henri Dunant, der weltweit bekannte Stifter des Roten Kreuzes und Friedens-Nobelpreisträger. Er verbringt seinen Lebensabend in Heiden. Wir sehen auch Friedrich Graefe, in der Biedermeierzeit in Berlin geboren, wo er die weltweit bedeutendste Forschungsstätte der Augenheilkunde betreibt. Hier am Bodenseesaum finden noch heute farbenprächtige Biedermeier-Feste statt, hier wird getanzt, getrunken und gespeist wie vor fast zwei Jahrhunderten - und zwar exzellent. Die Etikette auf den Weinflaschen stellen die Münchner Schönheit Fanny Gail im Biedermeiergewand vor. Den Rebensaft und natürlich den begehrten Appenzeller Käse kredenzt von der feschen Filia hospitalis im Zentrum von Heiden - das hat schon was ganz besonderes!.
Damit sind wir natürlich bei einem Reizwort: Hier findet man sympathische Frauen, gesellige Kellnerinnen und Schaffnerinnen, doch auf das Wahlrecht müssen sie lange warten. Der Spott der Welt ergießt sich vor einigen Jahrzehnten auf Appenzell. Der Verfasser dieser Zeilen war Zeuge der Auseinandersetzungen damals und er kann sich noch gut an die Argumente eines Gegners in einer öffentlichen Debatte erinnern: „Mein Großvater war gegen das Stimmrecht, mein Vater war gegen das Stimmrecht, und ich bin auch dagegen.” Heute lächelt man natürlich über diese Episoden, die freilich damals so beleidigend wie verletzend waren.
Dennoch, die Landsgemeinde jeweils am letzten Sonntag im April beeindruckt noch heute. 2009 geht es um Fragen wie, darf man im Kanton nackt wandern? Im Wiegenschritt zu uralten Klängen der Blaskapelle schreiten die Honoratioren in Appenzell zum Festplatz. Wir sehen viele Männer im Anzug und den Degen an der Seite, die Sonne spiegelt sich an den Goldhelmen der Wache wider, die schwere Kirchturmglocke dröhnt auf die Menschen hernieder, Frauen im Festzug sieht man kaum, die wenigen unter den vielen Männern lächeln fast verschämt. Das Gegenteil zu behaupten, wäre ein falsches Zeugnis!
Man spürt es förmlich (und das ist die Beobachtung eines neutralen Gastes), die Frauen hier haben sich aus der ihnen ursprünglich zugedachten Rolle noch nicht so recht lösen können. Und man wird schon nachdenklich, wenn der Regierende Landamman Carlo Schmid auf dem großen Platz von Appenzell redet und „Anstand und Respekt gegen die Schwächeren” fordert. Im gleichen Atemzug beklagt er die „Gewinnmaximierung” einiger und die Politik in der Landeshauptstadt Bern, die immer mehr Kompetenzen an sich ziehe.
Die Welt, das spürt man hier überdeutlich, beginnt auch in der Schweiz, sich grundlegend zu ändern. Die Läden hier besitzen zwei Kassen, man kann inzwischen selbstverständlich auch mit Euro bezahlen und bekommt das Wechselgeld in derselben Währung heraus. Preisgünstig ist die Schweiz seit der Euro-Einführung zudem auch geworden, gegenüber Deutschland am Bodensee schon sehr fühlbar. Und im Evakostüm wandern darf man künftig in Appenzell ebensowenig wie anderswo, was die Landsgemeinde beschließt.
Wer jetzt einen der letzten gesellschaftlichen und politischen Umschwünge im freien Europa miterleben will, mit all seinen prächtigen und mächtigen Facetten, muß in die Schweiz. Hier spürt man denn auch leider: Die „Gewinnmaximierung” einiger, die Carlo Schmid geißelt, wird sich auf Dauer gegen das wohl löblichste der demokratischen Modelle durchsetzen.
Hoch oben auf den prallen Hügeln zwischen Bodensee und Säntis schaut man, bildlich gesprochen, sowohl in die Niederung im Norden als auch auf den hehren Gipfel südlich davon. Schon Viktor von Scheffel hat das gespürt. Mit der von den Engländern gebauten Eisenbahn beginnt seiner Meinung nach der Wandel, der jetzt seinen Kulminationspunkt zu erreichen scheint. Also nichts wie hin, auch wenn die Zugfahrt von München aus noch eine ganze Stunde länger dauert! Diese 60 Minuten sind der geringe Preis für das einmalige Erlebnis des sich derzeit vollziehenden Ab- oder Aufstieges der Schweizer von der urdemokratischen Insel und Idylle der Eidgenossen zum politisch vereinten Europa.
Auskünfte: St.Gallen-Bodensee Tourismus, Bahnhofplatz 1a, CH-9001 St.Gallen - Tel.: +41(0)71 227 37 37 - E-mail: info@st.gallen-bodensee.ch - Internet: www.st.gallen-bodensee.ch.