Wie so oft im Leben: Die Ouvertüre ist gar nicht verheißungsvoll. Wenn man vom Hauptbahnhof zum Hotel geht, zunächst ein Schock mit verwahrlosten Jugendlichen, dann aber in Manier einer Kalt- Heißdusche ein Foyer vom schönsten. Man trifft auf ein heiteres Personal, eine Bar mit einem gepflegten Bier und eine junge Frau, die soeben auf dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag in Berlin zur „Besten Hotelfachfrau Deutschlands“ gekürt wurde: Juliane Jänichen.
Wir sind im Maritim der Stadt, auf das wir noch zurückkommen werden, ist doch zunächst eines Erlebnisses zu gedenken, das den Gast wiederum schockiert. Er stellt nämlich erschrocken fest: Es treiben sich darin noch immer alte Männer herum, die sich edler Beziehungen zu Ulbricht und Margot Honecker rühmen und das DDR-System mit Mauer und Todesstreifen, Lebensmittelknappheit, Morden an der Grenze, Wohnhäusern und Straßen nahe der Selbstauflösung, Knebelung der freien Meinung, Reiseverboten und vollen Gefängnissen mit politischen Häftlingen für gut halten.
Wir führen ein langes Gespräch mit Maritim-Direktor Sandro Schmidt, der einst selbst in den Westen flüchtete. Das Ideal der Freiheit, so erklärt er, sehen nicht alle Bürger als solches, um es vorsichtig auszudrücken. Danach eine Diskussion mit einem Fremdenführer aus der Gilde der Halloren, der mitteilt: Sehr viele verstehen unter Freiheit etwas ganz anderes, sie sei beeinträchtigt, wenn man das tun muß, was der Chef anordnet. Er sagt das auf dem Dach eines hohen DDR-Plattenbaus im Stadtteil Neustadt, das an Häßlichkeit keine Konkurrenz zu befürchten hat, dessen Planer sich aber darob noch lobpreisen. Wer soll das verstehen?
Wir sind sechs Tage in der Stadt, reden mit Verkäuferinnen, Bedienungen, Kirchenführern, Barkeepern, Buchhändlern, den Nachbarn am Biertisch. Die meisten sind trotz hoher Arbeitslosigkeit stolz, Bürger eines freien Staates zu sein. Natürlich prägen die Studenten das Stadtbild, und aus ihrem Mund hört man nichts mehr von der Glorie des Sozialismus. Da fällt uns auch der junge Pfarrer der katholischen Kirche St. Moritz ein, in dessen Gotteshaus ein großes Luther-Bildnis hängt. Es bleibe drinnen, so teilt er mit, auch wenn der Papst eine Entfernung anordnen würde. Im Buchgeschäft ein Gespräch über die Memoiren der Margot Honecker, die1927 in Halle geboren wurde: „Dieses Schwein“, lautet einer der Kommentare.
Wir speisen mittags hervorragend im Hof des Händel-Museums – und sind damit bei einem der bekanntesten Komponisten Europas: Georg Friedrich Händel, 1685 hier im Hause geboren. Weltbekannt noch immer sein „Halle-luja“ aus dem Messias. Ein Preislied, das untrüglich auf seine Heimatstadt Halle weist, das in England, wo Händel wohnt und stirbt (1759), zum festen Liedbestand der Liturgie gehört. Die Verehrung der Briten geht so weit, daß man gar vermutet, deshalb haben sie die Stadt 1944/45 verschont. Tatsächlich kennt die Altstadt keine Bombenschäden.
Das vielfache Halle-luja auf Halle beginnt denn so auch mit Händels Geburtshaus, das heute zu den schönsten Museen seiner Art zählt. Man kann Kurzpräsentationen seiner Opern erleben, und auch wer das Genre nicht so besonders liebt, wird beeindruckt sein. Das Ambiente atmet europäischen Geist, das Genie - und Freiheit!
Wenige Gehminuten entfernt die Moritzburg, einst Herrschaftssitz eines der unwürdigsten Kirchenfürsten (Albrecht von Brandenburg). Ohne dieses Ekel ist Martin Luthers Thesenanschlag schwer vorstellbar. Anstelle des gigantischen Reliquienschatzes traten indes Bilder von Weltklasse. Wir bestaunen Gemälde und Plastiken von Klimt und Munch, Lenbach und Leibl, Rodin und Kobell, Modersohn-Becker und Marc („Weißer Kater“), Corinth (Selbstbildnis), Feininger (Bilder von seinen Halle-Aufenthalten) und die Produkte des Künstlerrings Die Brücke, darunter Muellers „Zigeunerin“. Bezaubernd in ihrer Jugendfrische die Marmorbüste der unvergeßlichen Königin Luise (von Schadow)!
Drei Kirchen unbedingt anschauen: Dom mit einer bezaubernden Renaissance-Kanzel, St. Moritz mit den Bildnissen von Luther und Baumeister Konrad von Einbeck, Marktkirche, auf deren Altarbild die heilige Maria auf den Halbmond und einen Türkenkopf tritt. Orgelliebhaber werden sich nach den Konzerten erkundigen.
Weltweit wirkender Magnet ist natürlich das Landesmuseum für Vorgeschichte, etwas außerhalb der Altstadt. Didaktisch genial aufbereitet die Nebrascheibe und deren Umfeld. „Eines der merkwürdigsten Objekte, das den Archäologen je untergekommen ist“, schreibt dazu die FAZ. Rund 4000 Jahre alt und noch immer wunderbar und faszinierend!
Während wir durch die Straßen schlendern, sehen wir immer wieder die Hinweistafeln zu weiteren Sehenswürdigkeiten: Friedhof nach Art des italienischen Campo Santo. Hier fanden Händels Eltern und Geschwister ihre letzte Ruhe, auch der weltbekannte in Halle geborene (1660) Pharmazeut Friedrich Hoffmann („Hoffmannstropfen“). Weiter die Hackedornstraße mit sechs hohen und von Goethe gepriesenen Ginkgobäumen, dann der lauschige Residenzgarten, die Franckesche Stiftung samt Museen, Ausstellungen und Sammlungen aus aller Welt.
Zurück in die Altstadt! Hier wohnte Eichendorff, dort Friedemann Bach, man bestaunt im Theater die blutjunge Lena Zipp, die Zigeunerin Esmeralda, und lauscht dem Studenten Martin, der vor dem Antiquariat doziert - über den großen Philosophen Christian Wolf (1754 in Halle gestorben), der um die Ecke seine Ideen entwickelte, die Kant und Voltaire beeinflußten. Daneben die Sternstraße, eine idyllische Wirtshausmeile - am Abend voller Geflüster, Lieder und Umarmungen!
Manchmal wundert man sich über die Preise. Billig ißt und trinkt man hier nicht. Wir haben schnell eine Lösung gefunden – und speisen im Maritim. Den Kontrast illustriert eines meiner Lieblingsgerichte: Frische Pfifferlinge in Rahmsoße. Im besagten Hotel 7.50 Euro, in einer einfachen Gaststätte 10.50 Euro (und das mit viel Ei untermischt). Der Kontraste damit noch lange kein Ende – dennoch zum Fazit: Sechs Tage Halle – eine wunderschöne Zeit!
Links: www.maritim.de