„Brav, Faninal, er weiß, was sich gehört, serviert einen alten Tokaier zu einem jungen Mädel!“ So lobt im „Rosenkavalier“ (Richard Strauss) der häßliche Baron Ochs von Lerchenau den künftigen Schwiegervater, als der Heiratskontrakt mit der attraktiven Sophie unterschrieben werden soll. Ein altes Klischee, das sich seit den Zeiten der Kaiserin Maria Theresia hält! Fast jedermann weiß um diesen köstlichen Rebensaft, doch sein Herkunftsland kennt kaum jemand. Wir besuchen es – und stellen erstaunliches fest: Tokaj, eine Stadt von internationaler Reputation mit südöstlichen Relikten und Kontakten zu Frankreich, einer Synagoge und griechisch-orthodoxen Kirche, die alle der antike (und hier oft abgebildete) Weingott Bacchus inmitten stattlicher und satter Rebflächen auf heißem Vulkanboden beherrscht.
Zunächst gilt es, die wichtigste Frage zu beantworten: Wo liegt denn eigentlich Tokaj? In Ungarn, das wissen noch viele. Aber dann die frappierende Antwort: Weit weg von Budapest, hoch oben im Nordosten, fast an der Grenze zur Ukraine. Wir treffen Mitglieder eines Regensburger Druckgußwerks, die immer am Wochenende nach Hause reisen - und hören: Kein Problem, mit dem Auto zum Airport Budapest, dann Flug nach München und heim, fünf Stunden.
Wir unterhalten uns im vornehmen Hotel „Gróf Degenfeld“ an der Peripherie von Tokaj, mitten in einem großen Park gelegen, ruhig und idyllisch, normale Preise. Von den Wänden strahlen Bilder vergangener Zeiten, Habsburgerporträts, natürlich auch Kaiserin Elisabeth (Sissi), deren Geliebter Andrássy ganz in der Nähe ein Schloß hat. Weiter sehen wir Familienporträts der Familie Degenfeld. Ihr prominentestes Mitglied heißt Maria Susanna. „Sie war schön, verständig, geschickt, und insonderheit der lateinischen, wie auch anderer Sprachen sehr mächtig“, wie das „Zedler-Lexikon“ des 18. Jahrhunderts schreibt. Dem pfälzischen Kurfürsten Karl Ludwig, so erfahren wir weiter, flüstert sie in Französisch so verlockende Sätze ins Ohr, daß sie schnell zu einer der bekanntesten Mätressen des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation aufsteigt.
Besagter Enzyklopädie entnehmen wir auch eine Beschreibung, die den Bekanntheitsgrad Tokajs damals noch mehr steigert: „Es ist nur ein kleines Revier, welches die herrliche Sorte von Trauben hervorbringt, daraus man den ermeldeten berühmten Tockayer-Wein zu pressen pfleget. Dieser Wein ist in Wien selber eine Rarität.“ Im gleichen Atemzug werden die Fische der nahen Theiß gelobt, die nicht nur schmackhaft, sondern auch sehr zahlreich seien. Hier können sich also kein Hunger und kein Durst breitmachen, ein gottgesegnetes Land!. Und so verwundert es auch nicht, daß die Region in der Nationalhymne der Magyaren Eingang findet: „Nektar, Tropfen reinen Golds – Floß aus Tokajs Kellern.“ Diese Verse zitiert stolz die ungarische Fremdenführerin Eva Kleyer vor der Ortskirche und Säule des heiligen Stephan. Am 31. Dezember um Mitternacht singen noch heute die Landsleute diese Strophen, erzählt sie weiter.
Wir streifen durch die Stadt, alles ein bißchen wie ein Märchen, der Herbst hat die Rebenhänge und –felder in den Malkasten der Natur getaucht. Mit uns schneidet der Bürgermeister die letzten Reben, wir pressen sie – und genießen den frischen trüben Saft, jeden Delikatessengeschäfts mehr als würdig! Vor uns das Vulkan-Ambiente, das nicht nur grelle Farben mischt und das leckere Mahl auftischt, sondern ebenso die Glückseligkeiten der Menschheit vereinigt. Man denkt unwillkürlich an den eingangs zitierten „alten Tokaier“ und das „junge Mädel“, aber eben auch an Maria Susanna von Degenfeld, Kaiserin Elisabeth - und das fröhliche Paar, das gerade einem Auto mit Nürnberger Kennzeichen und dem Aufkleber „Just married“ entsteigt.
Besagte Kaiserin Elisabeth (Sissi) erhält in der Münchner Taufe von 1837 den Namen einer wunderbaren Frau, der heiligen Elisabeth, die 1207 als Tochter des Königs Andreas II. im Tokajer Land, konkret in Sárospatak, das Licht der Welt erblickt und dann als mildtätige Frau Weltruf erlangt. Sie strahlt auf die mittelalterlichen Menschen so viel Glanz aus, daß die meisten Mädchen auf ihren Namen (nicht Maria) getauft werden. Und noch heute beliebt, vor allem in Ungarn, wo man Erzsébet sagt und schreibt, wobei man freilich auch an die fesche Kaiserin denkt. Völlig unvermutetes ist also zu verinnerlichen: Einer der beliebtsten Vornamen Europas stammt aus der Region Tokaj!
Und so hat man manchmal den Eindruck, hier im ungarischen Norden konzentriert sich der bekannte Stolz der Nation mehr als in der Hauptstadt oder in der Pußta. Nur noch zwei Beispiele aus der Tokajer Region dazu: In Vizsoly erscheint die erste gedruckte Bibel in ungarischer Sprache, ein literarisches Denkmal, das nicht hoch genug veranschlagt werden kann, sagt Eva Kleyer. Und in Sátoraljaújhely lebt länger der Nationalheld und Freiheitskämpfer Lajos (Ludwig von) Kossuth, der in der Mitte des 19. Jahrhundert die Absetzung des Kaisers Franz Joseph proklamiert und unter ständiger Lebensgefahr für die Unabhängigkeit Ungarns kämpft.
Fazit dieser kurzen Herbstreise: Überall wunderbare Gegend und Geschichte, köstliches im Glas und auf dem Teller, höfliche Menschen, fröhliche Touristen, die das Gefühl vermitteln, bei ihrer Entscheidung hierher zu fahren, einen Glücksgriff getan zu haben. Wir sehen vor der Abfahrt nochmals das Nürnberger Brautpaar, das im Gegensatz zum Ochs von Lerchenau und Sophie Faninal zusammenkam. Die junge Frau strahlt und erklärt lächelnd: „Schöner können Flitterwochen nicht sein!“
Weitere Informationen unter: Ungarisches Tourismusamt