Sie ist 96, lebt allein. Kinder und erwachsene Enkelkinder arbeiten und kommen nur am Wochenende vorbei. Manchmal, wenn die Zeit eng wird, auch mal nicht. Sie hat einen Weltkrieg mitgemacht, ein kommunistisches Regime überstanden, den Ehemann begraben. Bisher hat sie ihr Leben im Griff gehabt, sich regelmäßig mit ein paar Freundinnen im gleichen Alter getroffen. Die alltäglichen Dinge erledigt sie ohne Hilfe. Einkaufen macht ihr besondere Freude – kann man dabei doch mit Nachbarn und Verkäuferinnen die neuestes Nachrichten austauschen. Nun darf sie zwar noch spazieren gehen, sogar einkaufen – aber in den Supermärkten merkt sie, dass sie unerwünscht ist, trotz Maske. Auch die Enkel und Urenkel dürfen sie nicht mehr besuchen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich meine letzte Zeit hier auf Erden eingesperrt und getrennt, von allem was mir wichtig und allen, die mir lieb sind, erleben muss“ sagt sie.
Der Mensch ist und war nie ein Einzelgänger, sondern ein Gemeinschaftswesen, und das seit Millionen von Jahren. Nur in der Gemeinschaft und durch die Kontakte untereinander hat er überleben können – die Überfälle wilder Tier, später die Überfälle nachbarlicher oder auch verfeindeter Stämme. Die Menschen haben sich organisiert, jeder hatte seinen Platz und seine Aufgabe in dieser Gemeinschaft. Und das funktioniert. In der Regel. Auch unter besonderen Umständen, wie bei Krankheiten (siehe die Pest, oder die spanische Grippe) oder Kriegen. die Liste ist lang.
Nun haben wir hier einen besonderen Fall – COVID-19. Und die Aufgabenverteilung ist nicht so einfach, wie seinerzeit. Regierungen müssen über das Leben von Millionen Menschen entscheiden. Müssen entscheiden, ob sie arbeiten dürfen oder können, wie sie leben dürfen/müssen, und dürfen verbieten, sich von A nach B fort zu bewegen. Räumliche und soziale Isolation ist in aller Munde. Damit dieses Virus sich nicht weiter verbreiten kann.
Sie ist 95, ist dement und lebt in einem Pflegeheim. Seit dem Lockdown durften Kinder und Enkelkinder sie nicht mehr besuchen, wochenlang lag sie allein, in einem Zimmer. Ob und inwieweit die alte Frau das mitbekommen hat, weiß niemand. Erst jetzt, nach der Lockerung der Bestimmungen darf sie von einem der Kinder oder Enkelkinder für eine Stunde besucht werden. Während eines dieser Besuche hat sich eine Tochter getraut, die Mutter zu umarmen. Die Freude im Gesicht der alten Frau, die Entspannung, die sich zeigte, davon hat die Tochter tagelang erzählt und geweint…
Quarantäne, Abgeschiedenheit, Trennung von der Welt und den nächsten Bekannten und Verwandten führt zu tiefer Trauer, Wut, Frust, Depressionen, Angst, Unsicherheit. Angst und Panik vor dem, wie es weiter gehen wird, ob irgendwann ein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist. Alten und älteren Menschen fällt es sehr schwer, diese Situation zu begreifen und sich darin und damit zurecht zu finden. Aber auch Kinder, besonders die kleinen haben Probleme – wenn sie die Freunde nicht mehr sehen dürfen, allein in der Wohnung spielen müssen, nur noch von Eltern beschult oder bespaßt werden. Sie werden, wie viele Eltern erzählen, unleidlich, sie sind unausgeglichen, sanftmütige Kinder raufen plötzlich mit den Geschwistern und bekommen Tobsuchtsanfälle.
Arbeitsstätten wurden geschlossen, die gewohnte Umgebung war durch den Lockdown plötzlich verändert, kaum wieder zu erkennen. Depressive Menschen vermissten ihre Tagesstruktur, die sie sich über Monate und Jahre erarbeitet haben, an die sich angelehnt haben und die ihnen ein einigermaßen akzeptables Leben garantierte. Aber selbst psychisch unauffällige Menschen erleben plötzlich Psychosen, Panikattacken, Wahnvorstellungen, wenn sie isoliert sind.
Von der SARS-Epidemie der Jahre 2014/2015 ist bekannt, dass sie zu langanhaltenden psychischen Folgeerkrankungen geführt hat. So ist es nicht verwunderlich, dass SAERS-Cov-2 zu vergleichbaren Zuständen führt, dass sich die Symptomatik in die gleiche Richtung bewegt.
Wie viele der Betroffenen diese Situationen nicht ertragen können und den Weg des Suizids wählen, ist nicht bekannt, wird sich aber dann, wenn diese Krise endlich vorbei ist, in erschreckenden Zahlenreihen zeigen.
Denn für psychische Patienten gibt es momentan kaum adäquate Hilfe. Psychiatrische Akutkrankenhäuser sind für Coronapatienten reserviert. Therapieplätze bei niedergelassenen Psychologischen Psychotherapeuten waren schon vor Corona Mangelware. Jetzt können viele Therapeuten allenfalls eine telefonische Kurzberatung anbieten, weil sie selbst gesperrt sind, oder weil sie Kinder daheim habe, die eine berufliche Tätigkeit unmöglich machen.
Ich möchte nicht wissen, wieviele Ehen oder Partnerschaften in diesen extremen Situationen für alle Beteiligten zerbrechen, wieviele Freundschaften aus dem gleichen Grund die Coronapandemie nicht überstehen.
Ich möchte auch nicht wissen, wieviele Kinder, kleine und große psychische Schäden und Lerndefizite durch diese Zeit auf ihren späteren Lebenswegen mitnehmen werden.
Aber Corona ist nicht nur COVID-19 und psychische Schäden, die als Kollateralschäden entstehen. Im Lancet wurde kürzlich berichtet, dass befürchtet werden muss, dass Corona aufgrund seiner Struktur auch zu vielen mögliche anderen Erkrankungen fuhren kann, seelische und körperliche. Aber aufgrund der angstbesetzten Situation - vor allem der Angst vor Ansteckung - gehen viele nicht mehr zum Hausarzt, weder wenn Symptome auftreten, stören, oder zu Schmerzen führen, noch zu den üblichen Vorsorgeuntersuchungen. Damit werden nicht wenige Krankheiten übersehen, ignoriert, verschleppt und irgend wann sind es dann die Notfälle, bei denen es auch um Leben oder Tod geht.
Auch dringende, nötige chirurgische Eingriffe oder geplante Operationen wurden abgesagt, oder verschoben. Wegen akutem Personalmangel und wegen Mangel an Intensivbetten, die alle mit Covid-19 Patienten beschäftig bzw. von ihnen belegt waren. Und natürlich wegen einer möglichen Ansteckung der anderen stationär liegenden Patienten.
Einsamkeit macht krank. Und obwohl bei uns der Lockdown langsam aber sicher aufgehoben und/der reduziert wird, ist es mir dennoch ein Anliegen, zu betonen, dass ein Schutz vor Corona nach wie vor gewährleistet sein muss. Wegen unsren (alten) Verwandten, Bekannten, Nachbarn, Freunden. Wegen unserer Kinder und natürlich für uns alle. Aber genauso wichtig ist es, uns auch vor den psychischen und Kollateralschäden dieser Pandemie zu bewahren, denn die treten unweigerlich beim akuten Schutz vor SARS-Cov-2 auf. Schleichend erscheinen sie, unsichtbar sind sie, aber sie können weitaus schlimmere Folgen haben, als Corona.