Wie das Universitätsklinikum Tübingen in Zusammenarbeit mit dem Hertie-Institut für klinische Hirnforschung vermeldet, wurde nun erstmals in Europa einem 5-jähriges Kind, maßgeschneidert für dessen individuellen Genfehler, eine RNA-Therapie eingesetzt. Wie die Universität mitteilte, leidet der 5-jährige Junge an Ataxia telegiectasia, einer sehr seltenen und schweren Erkrankung, die mit einem fortschreitenden Verlust der Geh- und Stehfähigkeit einhergeht.
Für dieses Leiden gab es bislang keine ursächliche Therapie. Im Rahmen eines individuellen Heilversuchs wird der kleine Patient nun mit einer RNA-Therapie behandelt.
Ein Forschungsteam hat deshalb einen kurzen RNA-Schnipsel, ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO), entwickelt, der passgenau auf die Genmutation des Kindes zugeschnitten ist. Er soll in seinen Nervenzellen der Mutation entgegenwirken und ihnen dabei helfen, ein fehlendes Eiweiß wiederherzustellen”.
Ziel ist, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder gar vorübergehend aufzuhalten. Bislang verträgt der Patient die Behandlung gut. An dem Heilversuch ist ein Team vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, der Medizinischen Fakultät Tübingen, dem Zentrum für Seltene Erkrankungen und der Kinderklinik des Universitätsklinikums Tübingen beteiligt.
„Während der Schwangerschaft und im ersten Lebensjahr schien mit Poyraz alles normal zu sein“, berichtet seine Mutter. „Mit 13 Monaten begann er zu laufen. Sein Gleichgewicht war nicht gut, aber wir dachten, das sei vorerst normal. Als er 18 Monate alt war, wurden die Probleme deutlicher. Er schwankte, wenn er stillstand, und er lief lieber, als dass er ging. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen wir, einen Kinderneurologen aufzusuchen.“ Nach einigen Monaten und vielen Tests erhielten Poyraz und seine Familie schließlich die Diagnose: Ataxia telegiectasia, kurz AT, einer Genmutation. Dabei sterben die für die Koordination der Bewegung zuständigen Nervenzellen ab. Als Auslöser der Krankheit wurde eine angeborene Gen-Mutation gefunden.
Bereits im Kindesalter verlierene Erkrankte die Fähigkeit frei zu gehen. Schon im frühen Erwachsenenalter werden sie pflegebedürftig. „Das löst eine ganze Abfolge an fehlerhaften Vorgängen in den Zellen aus. An einer Stelle im Prozess wird ein wichtiges Eiweiß in nicht ausreichendem Maß gebildet. Das führt langfristig zum Tod der Zellen. Bislang gibt es keine Therapie, die an der Ursache der Erkrankung ansetzt“, erklärt Professor Dr. Matthis Synofzik. Der Neurologe ist Forschungsgruppenleiter am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung.
Deswegen schlug man gemeinsam mit einem internationalen Forschungsteam einen neuen, innovativen Weg ein. “Im Reagenzglas stellten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sogenannte Antisense-Oligonukleotide, kurz ASO, her. Dabei handelt es sich um kurze RNA-Stückchen. Die Forschenden haben sie so kreiert, dass sie sich genau über die mutierte Stelle im Erbgut des Patienten legen können. Dadurch können die Zellen das Gen wieder korrekt ablesen und das wichtige Eiweiß wird in normalem Umfang hergestellt”.
„Das maßgeschneiderte ASO ist so individuell, dass es nur diesem Patienten helfen kann – ganz ähnlich wie ein Schlüssel in nur ein Schloss passt und nicht in mehrere. Eine zweite Person mit Ataxia telegiectasia, deren Genmutation leicht verschieden ausfällt, benötigt ein anderes ASO“, so Synofzik.
Das aus zahlreichen Ärzte und Wissenschaftlern bestehende Forschungsprogramm „Eine Mutation, eine Medizin“ arbeitet eng mit einem transatlantischen Netzwerk zusammen. Zu ihnen zählen u. a. des Boston Children Hospital und der Harvard Medical School (USA). Sie stellten in dem vorliegenden Fall das ASO für den Patienten her. Aus diesem Grund erhielt Poyraz die ersten vier Dosen in den USA. Im September bekam er dann in der Tübinger Kinderklinik Die erste Erhaltungsdosis gabe es für Poyraz dann im September 2022 dann in der Tübinger Kinderklinik . „Das ASO wird künftig alle drei Monate über eine Spritze direkt ins Nervenwasser injiziert“, erklärt Kinderärztin Bevot. „Bei Kindern wird es im Rahmen einer kurzen Betäubung gegeben, sodass Poyraz es gar nicht mitbekommt. Bei Erwachsenen geht es auch ohne Betäubung. Nervenwasserpunktionen sind in der Neurologie ein Routineverfahren.“
„Dieser maßgeschneiderte, hochindividualisierte Ansatz ist revolutionär in der Medizin“, so Synofzik. Normalerweise verlaufe die Entwicklung eines Medikaments gemäß eines fest geregelten und langwierigen Prozesses, der Untersuchungen mit Zellkulturen, Tierversuche und Patientenstudien umfasse. Dieser Weg eigne sich aber nicht immer bei seltenen Erkrankungen. „Bei diesen Erkrankungen gibt es vielleicht kein passendes Tiermodell oder die Patientenanzahl ist so gering, dass klassische Studien schlicht nicht möglich sind. Auch können wir bei den schweren seltenen Erkrankungen keine zehn bis fünfzehn Jahre warten, die der übliche Entwicklungs- und Zulassungsprozess im Regelfall dauert“, führt Neurologin Schüle aus. In diesen Fällen blieben diese Erkrankungen und schwer Betroffenen dann oftmals ohne Therapien. „Die individualisierte Entwicklung eines Medikaments und ihre Anwendung über den Weg des individuellen Heilversuchs bleibt hier der einzige Ausweg.“
Um künftig anderen Patientinnen und Patienten mit seltenen erblichen Erkrankungen helfen zu können, erstellt das Forschungsteam nun eine Art Baukasten. Dieser soll die Entwicklung weiterer individueller ASO-Therapien unterstützen, so Synofzik: „Die Grundbausteine der jeweils für die einzelne Patientin oder den einzelnen Patienten zugeschnittenen ASO-Therapien sind stets ähnlich. Das bedeutet: Die Therapien sind einerseits hoch individuell – und doch zugleich generalisierbar! So können wir bei künftigen Fällen auf bereits vorhandenes Wissen und Techniken zurückgreifen, und schneller einen individuellen Wirkstoff für andere Personen bereitstellen, die eine spezifische passende Mutation haben.“ Die nächsten ASO sollen daher auch nicht mehr über den US-Partner, sondern direkt in Tübingen, Heidelberg und Leiden entwickelt werden.
Quelle: PM 3-23, Uni Tübingen
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