“Anorexie (Magersucht) und Bulimie (Ess-Brech-Sucht) sind mittlerweile die häufigsten psychosomatischen Krankheiten von Mädchen und jungen Frauen im Alter zwischen 12 und 35 Jahren”. Mit dieser Nachricht verdeutlichte Dr. Dietrich Munz von der Sonnenberg Klinik Stuttgart den Zuhörern der Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung im Oktober in Stuttgart die Bedeutung der Essstörungen in Deutschland.
Insgesamt seien fünf Prozent dieser weiblichen Altersgruppe an Anorexie und Bulimie erkrankt. Jungen und Männer träfe man noch relativ selten unter den Patienten, aber der Anteil steige sichtbar an. Der Stuttgarter Wissenschaftler beschreibt die Situation der Betroffenen sehr plakativ: “Es ist verrückt, Menschen hungern in einer Gesellschaft, die ausgehungert ist. Andere fressen alles bis zur Erschöpfung in sich hinein”.
Magersüchtige hungern mit der überwertigen Idee, zu dick zu sein. Ess-Brech-Süchtige dagegen, haben die Kontrolle über ihr Essverhalten verloren; sie essen Unmengen an Nahrung, um sich wenig später wieder zu übergeben. Die Verläufe sind nach Auffassung der Experten oft ähnlich: Die meisten jungen Patienten seien schulisch oft gut, aber sozial eher schwach. Meist brächen die Essstörungen in der Pubertät aus. Konflikte in den Familien, fehlender Austausch unter den Familienmitgliedern förderten deren Entwicklung. Warum gerade der Anteil an essgestörten Mädchen und Frauen in den letzten Jahren so gestiegen sei, erklärten die Referenten mit der überhöhten Erwartungshaltung, den die Gesellschaft an Frauen habe. Mädchen mache es Angst, wenn sie sähen, welchen Erwartungen sie in Familie, Beruf und Haushalt gegenüber stünden. Sie flüchteten sich in Diäten, um den idealen Körpermaßen näher zu kommen. Die Patienten werden immer jünger: In Westeuropa hat bereits jedes zweite Mädchen zwischen elf und 13 Jahren Diäterfahrung. Nehmen Betroffene in kurzer Zeit viel ab, etwa 10 bis 15 Kilo in sechs bis acht Wochen, dann ist fachkundliche Unterstützung notwendig. Ein hoher Flüssigkeitsverlust könne zum Austrocknen führen und den Elektrolythaushalt stören. Nieren-, Zahn- und Skelettschäden seien die Spätfolge. Für viele Patienten ist eine psychische Behandlung notwendig. Die Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin Dr. Ingrid Rothe-Kirchberger aus Stuttgart bedauerte, dass sich noch wenig Psychotherapeuten auf Essstörungen spezialisierten. Wichtig sei eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Psychologen, und Ernährungsberatern. Eltern und Lehrer sollten auch einbezogen werden.