Der Begriff Niacin bezieht sich sowohl auf die Nicotinsaure selbst als auch auf ihr Aminderivat Nicotinamid (Niacinamid). Als veraltet und heute überholt gelten Nicotinsäure-Bezeichnungen wie Vitamin B 3 oder B 4 und PP-Faktor (pellagrapreventingfactor). Unter der “Niacin-Aktivität” eines Lebensmittels versteht man diejenige Nicotinsäure-Konzentration, die durch die Bildung von Niacin aus Tryptophan der Nahrung zustande kommt. Niacin gehört zum Vitamin B-Komplex.
Nicotinamid und Nicotinsäure sind in der Natur weit verbreitet. Nicotinsäure kommt häufiger in Pflanzen vor, während im tierischen Organismus das Nicotinamid vorherrscht. Den Hauptbeitrag zur Niacinversorqung leisten Nahrungsmittel wie Geflügelfleisch, anderes mageres Fleisch, Leber, Hefe, Nüsse und Hülsenfrüchte. Milch und grüne Blattgemüse sind weniger ergiebig. In einigen Getreidearten (Mais, Weizen) ist die Nicotinsäure fest an bestimmte Bestandteile gebunden, so daß sie nicht binverfügbar ist. Spezielle Bearbeitungsmethoden wie zum Beispiel das Vorbehandeln des Korns mit Laugen oder Kalkwasser steigert die Bioverfügbarkeit des Niacins in diesen Produkten. Die essentielle Aminosäure Tryptophan kann eine wichtige Vorstufe für das Niacin sein; sie liefert je nach Niacin-Versorgungszustand bei durchschnittlicher Kost und ausreichender Zufuhr der Vitamine B 2 (Riboflavin), B 6 (Pyridoxin) und Folsäure bis zu zwei Drittel des Niacinbedarfs eines Erwachsenen. Wichtige Tryptophanquellen sind Fleisch, Milch und Eier.
Zu den uncharakteristischen Symptomen des Anfangsstadiums, die dann bis zum ausgeprägten Mangel führen können, gehören Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, Gewichts- und Kräfteverlust, Mundtrockenheit, Verdauungsstörungen, Bauchschmerzen, brennendes Gefühl an unterschiedlichen Stellen des Körpers, Taubheitsgefühl, Schwindel, Kopfschmerzen, Nervosität, Ablenkbarkeit, Ängstlichkeit, Vergeßlichkeit und Verwirrungszustände.
Als typische Niacin-Mangelkrankheit gilt die Pellagra, die primär durch einen kombinierten Niacin- und Tryptophanmangel verursacht wird. Die Symptome der Pellagra umfassen krankhafte Hautveränderungen, Demenzerscheinungen, Durchfälle und nervöse Störungen. Die Hautschädigungen finden sich meistens an besonders strapazierten Stellen wie Handgelenken, Ellbogen und Nacken. Im oberen Gastrointestinaltrakt kommt es vor allem zu Zungen- und Mundschleimbautentzündungen (Glossitis, Stomatitis). Übelkeit und Erbrechen können bereits im frühen Krankheitsstadium auftreten. Der Mangel kann zu Lähmungserscheinungen an den Extremitäten, insbesondere an den Beinen, führen.
Der Niacinbedarf ist erhöht während der Schwangerschaft und Stillzeit, unter Einnahme oraler Kontrazeptiva, bei Krebserkrankungen und bei Menschen mit Proteinmangel. Die Pellagra kommt in industrialisierten Ländern selten vor; sie kann jedoch unter chronischem Alkoholmißbrauch auftreten. In anderen Teilen der Erde, in denen Mais und Sorghumhirse die wichtigsten Grundnahrungsmittel sind, ist die Pellagra auch heute noch verbreitet.
Der jeweilige tägliche Niacinbedarf hängt vom Anteil des Tryptophans in der Nahrung ab sowie von der Effizienz, mit der Trypiophan in Niacin umgewandelt wird. Der Konversionsfaktor wird mit 60 mg Tryptophan zu 1 mg Niacin angesetzt. Dies entspricht 1 Niacinequivalent (NE). Dieser Faktor wird zum einen für die Ermittlung des Anteils aus Nahrungstryptophan herangezogen, zum anderen aber auch für die Zufuhrempfehlungen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt als optimale Zufuhr für männliche Erwachsene und Jugendliche 18 - 20 mg Niacin-Equivalent pro Tag, für weibliche Erwachsene und Jugendliche 15 -16 mg, wobei 1 mg Niacin-Equivalent 60 mg Tryptophan entspricht. Schwangere sollten ihre Niacinaufnahme um 1 - 2 mg, Stillende um 4 - 5 mg Niacin-Equivalent erhöhen. Kinder sollten je nach Alter 9-17 mg erhalten, Säuglinge 5 - 6 mg. Die Empfehlungen basieren auf der Annahme einer gemischten Kost und orientieren sich bei Kindern und Erwachsenen auch an der Energiezufuhr /1000 kcal). Bei reduzierter Energiezufuhr sollte die Mindestmenge von 13 mg Niacin-Equivalent nicht unterschritten werden.
Die Milch von Müttern, die in einem guten Ernährungszustand sind, scheint den Niacinbedarf des Säuglings vollständig zu decken. Die Anreicherung von Säuglingsmilchnahrung sollte so erfolgen, daß eine Zufuhr von 5 - 6 mg gewährleistet ist.
Niacin ist als Monopräparat in unterschiedlicher Form erhältlich und steht in Multivitamin- und Vitamin-B-Komplex-Kombinationen zur oralen Anwendung oder als Infusionslösung zur Verfügung.
Der “sichere” Zufuhrbereich für Nicotinsäure ist abhängig von der individuellen Toleranz des einzelnen und der Dauer der Einnahme. Sichere Dosierungen liegen zwischen 300 mg und mehr als 1000 mg pro Tag.
Nicotinamid wird in Multivitamin-Präparaten häufiger verwendet als Nicotinsäure. Hochdosierte Multivitamin-Präparate mit etwa 100 mg gelten allgemein als sicher.
Pharmakologische Dosen Nicotinsäure (nicht jedoch Nicotinamid!), die 300 mg pro Tag überschreiten, waren teilweise mit Nebenwirkungen wie Übelkeit, Durchfall und vorübergehendem Flush verbunden. Bei Dosierungen von mehr als 2,5 g pro Tag kam es zu hepatotoxischen Wirkungen, zu Glucoseintoleranz, Hyperglykämie, erhöhten Harnsäurewerten im Blut, Sodbrennen, Übelkeit, Ausschlag, Müdigkeit, Halsschmerzen, Haartrockenheit und Schwierigkeiten der Augen, zu fixieren. Auch kann es zu schwerer Gelbsucht kommen, dies selbst bei Dosierungen von 750 mg pro Tag und als Folge zu dauerhaften Leberschäden.
Es gibt inzwischen Tabletten, die Puffersubstanzen enthalten, und Kapseln mit verzögerter Substanzabgabe, die zu einer Verminderung des Flush-Syndroms und einer besseren Verträglichkeit für Patienten mit gastrointestinaler Empfindlichkeit führen. Bei hoher Dosierung der Retardformen ist allerdings besondere Vorsicht geboten, da die Gefahr eines Leberschadens besteht.
Hohe Dosen Nicotinsäure bewirken eine starke Histamin-Ausschüttung aus den Mastzellen, so daß dann solche Histaminmengen, die FlushSymptome hervorrufen können, nicht mehr abgegeben werden. Wenn Histamin jedoch erst einmal freigesetzt worden ist, reichen die Mengen vermutlich nicht mehr für die normalen physiologischen Funktionen.
Histamin stimuliert die viscerale Muskulatur, wirkt gefäßerweiternd und regt die Sekretion von Speichel, Pankreas- und Magensaft an.