Streift man in diesen Wochen durch die Europäische Kulturhauptstadt Lille, stößt man allenthalben auf freundliche und aufgeschlossene Menschen. Doch spätestens bei der offiziellen Stadtführung kriecht die dunkle Vergangenheit aus den Häusern des Boulevards. Hier haben die Deutschen von 1914 an gehaust, dort im Zweiten Weltkrieg.
Natürlich bekommt man ein schlechtes Gewissen, das sich aber schnell in eine heitere Zuversicht verwandelt. Lille ist die Geburtsstadt Charles de Gaulles, der mit Adenauer ein Wunder zustande brachte, für das wir den beiden nicht genug danken können. Das sieht man genauso in Lille.
So genießen wir die Höflichkeit im Hotel, am Bahnhof und in den Restaurants, wo der Fisch der nahen See schon sehr gut schmeckt und man neben einheimischen Weinen auch frisches Bier kredenzt. Auf den Märkten wird man sich schnell einig, auch wenn sprachliche Probleme auftauchen. Gesten sind hilfreich, und a!s uns der alte Käsehändler auf die Schulter klopft, denken wir daran: Er könnte gegen meinen noch lebenden Onkel im Feld gestanden haben.
Jetzt glänzt Lille als Kulturhauptstadt. Doch Kultur hat immer ihre Wurzeln in der Geschichte, und diese ist reich und deprimierend zugleich. Die Stadt steht nämlich im zweiten Millennium fast ständig im Interessengebiet habgieriger Könige und Politiker aus Frankreich und Deutschland, Flandern und Österreich. 1477 fällt die 1054 erstmals erwähnte Siedlung an die Habsburger, 1667 erobert sie Ludwig XIV, 1708 nimmt sie Prinz Eugen nach einer hartnäckigen und blutigen Umzingelung wieder ein, aber schon fünf Jahre später haben die Franzosen abermals das Sagen. 1792 wird die Stadt erfolglos von den Österreichern belagert.
Lille ist nicht nur eine strategisch wichtige, sondern immer schon eine relativwohlhabende Stadt. Mit einem respektablen Binnenhafen und einer Textilindustrie, die Gelt und Geltung aus aller Welt einbringt. Das Museum für Schöne Künste entwickelt sich zum zweitgrößten (nach dem Louvre) der ganzen Nation. Der Maler Jean Baptist Wicar (Vicar) wird hier 1762 geboren, Schüler von Watteau und Günstling Napoleons. Er geht1800 nach Rom, wo er mit seiner Kunst die Gunst des Papstes erringt. Zu Hause in Lille blüht gerade der Kupferstich. Die hier von seinem Landsmann Albane angefertigten Reproduktionen antiker Kunstwerke gehen um den Globus.
1823 wird in Lille der Komponist Edouard Lalo geboren, einer der ersten Vertreter der neuen impressionistisch ausgerichteten französischen Schule. Er schreibt Opern und Ballette, Violinkonzerte und Lieder. Als er 1892 in Paris stirbt, ist Charles de Gaulle am Tag genau 17 Monate alt. Die Geburtshäuser beider stehen noch heute und sind durch Gedenktafeln gekennzeichnet.
Der kleine Charles bewundert die Befestigungen seiner Heimatstadt. Kein Geringerer als der große Kriegsbaumeister Sébastien Vauban (1633-1707) hat sie angelegt. So gilt Lille in Frankreich als Bastion ersten Ranges. Im Jahr 1895, de Gaulle feiert gerade seinen fünften Geburtstag, ändert das Kriegsministerium in Paris das Stadtbild total. Man gibt die Festung auf und legt eine grandiose Sicherheitsumwallung (Umfang 50 Kilometer) an.
Das soll sich bald als Fehler herausstellen. Die Deutsche haben nämlich 1914 keine Schwierigkeiten, die reiche Stadt zu nehmen. 65 Tage nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges marschiert die sechste deutschen Armee in Lille ein. Die Besatzung weicht nicht mehr bis zum Zusammenbruch 1918.
Eine böse Zeit für Lille. Nicht nur die als Erb- und Erzfeinde geltenden Franzosen und Deutschen bekämpfen sich, sondern auch die Katholiken unter einander. Der bayerische Feldpropst und Bischof Michael Faulhaber tritt hier auf und feuert seine Landsleute an, auf die Feinde zu schießen. Man kann es sich heute nicht mehr vorstellen, aber der Kirchenfürst predigt im Frühjahr 1915 tatsächlich Über die drei Gnaden im Felde.
Und selbst das gehört zu den Verrücktheiten dieser schlimmen Jahre: Die besetzte Lille zeigt den Deutschen auch die süßen Zeiten des Lebens. Überall bieten die Frauen und Mädchen ihre Dienste an. So lernt der bayerische Obergefreite erstmals raffinierte Unterwäsche der schlanken Feen der Picardie kennen – und natürlich mehr. Bald singen die Soldaten Lieder, die zu Hause auf blankes Entsetzen stoßen:
„In Lille, in Lille, da weht der Wind so still,
In Lille, in Lille, da kriegt man was fürs Gefühl.“
Auf unseren Spaziergängen durch diese schöne Stadt scheucht das reichhaltige Kulturangebot solche Gedanken wieder kurz weg. Lille und die Nachbarorte haben sich ein Feuerwerk von farbigen und faszinierenden Veranstaltungen einfallen lassen. Dazu lesen wir im offiziellen Prospekt: „Mehr als 80 künstlerische Ausstellungen und Performances finden in Museen oder außergewöhnlichen Stätten statt. Die Fülle und der Reichtum der Feierlichkeiten, das Rascheln der Stoffe, genauso aber auch große Innovationen, in die Traum- und Fantasiewelten führende Technologien.“
Im Mittelpunkt steht eine große Rubens-Ausstellung im Museum von Lille. Wir bewundern dort das Martyrium der heiligen Katharina und die pralle Venus, die bärenstarken Männer Herkules und Samson und die drei Grazien. Im nahen Valenciennes, wo 1684 Watteau geboren wird, huldigt man dem großen Sohn der Stadt. Immer wieder sehen wir das wichtige Genre seiner Zeit: Überfahrt der Liebespaare auf die Insel Zypern, dem Geburtsort der Venus. 1714 führt dorthin auch der große flämische Maler Francois Eisen seine in Valenciennes geborene Freundin Marie Gainze und anschließend an den Traualtar.
Einen Abstecher ist auch das nahe Arras wert. Zauberhaft die Schau _Rubens contre Poussin_im Museum der Schönen Künste, weiter der Grand’Place mit 155 Häusern (im flämischen Barockstil), dicht aneinander gereiht. Dann steht noch das Geburtshaus von Maximilien Robespierre, der wahrlich die Welt verändert hat.
In eine andere Welt begleitet haben so manche junge Frau die (in Calais) ausgestellten Ball- und Hochzeitskleider, die nach den Entwürfen großer Modedesigner geschneidert wurden. Wir sehen „Kleider für die Ewigkeit“, wie wir im Prospekt lesen. In diese führt ganz konkret die Tibetanische Gottheit in der Ausstellung „Zingaro“ (Lille). Des Aufzählens ist kein Ende. Hier Klänge von Beethoven und Bilder von Matisse und Ingres, dort ein Zirkus, chinesische Impressionen, große und kleine Feste.
Zum Schluss noch eine Delikatesse, auf die man besonders stolz ist. Dazu lesen wir im Prospekt: „Zwölf bedeutende Ausstellungsstätten in neuen Standorten: In Lille und der Umgebung werden ehemalige Fabrikanlagen oder Stätten des Kulturerbes zu maisons Folie. Als moderne Symbole einer neuen Lebensart bilden diese Häuser Raum für das alltägliche Leben sowie für Feierlichkeiten und versammeln sowohl Künstler als auch Anwohner.“ Man könne dort Gärten anlegen, Feste organisieren, Bücher ausleihen, Musik hören. Und was den Veranstaltern ganz wichtig ist: „Die Kinder sind hier König.“