Ein eleganter Boulevard kluger und schöner Frauen, faszinierender Musentempel und Nobelpreisschmiede mit berühmten Namen (Einstein, Willstätter), Geburtsort großer Dichter (Keller, Frisch) und ein entzückendes Bauensemble aus Renaissance und Romantik – das alles ist Zürich. Die Genies der Menschheit wohnen an der Limmat, deren Ufer nunmehr auch großteils autofrei sind. Lenin gibt hier 1917 den Vorbereitungen zur Oktoberrevolution den letzten Schliff. Wie immer heiter zeigt sich Goethe, der hier 1775 dichtet: „Ohne Wein und ohne Weiber / Hohl der Teufel unsre Leiber.“ Weltbekannt heute der Vers von Gottfried Benn: „Meinen Sie Zürich zum Beispiel…“ Kurzum: Eine Stadt mit tausend Facetten und einem Nenner: Liebens- und lobenswertes Orakel unserer Erde.
(Eigener Bericht) – „Zürich – Hotel Zum Storchen“, so schreibt am 26. Mai 1960 Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (1891 Berlin), „ein Märchen hier.“ Anders kann man die Idylle nicht beschreiben. Oben auf dem Dach dieses Hauses schaut der Storch auf die Gäste, die hier direkt am Ufer der Limmat absteigen. Freund Adebar ist zu allen Zeiten ein Glückssymbol, er sorgt für Mutterfreuden, wir verdanken ihm also alle unser Leben. Ein schönes Märchen freilich, aber Zürich ist voll davon. Und das macht diese Stadt so unglaublich attraktiv.
Zu einem wichtigen Teil dieser Weltstadt, so kann man ohne Übertreibung sagen, gehört das Hotel Zum Storchen, in dem die Originellen einkehren – wie Richard Wagner, Paracelsus, Franz Josef Strauß und Ernst Fuchs. Das Haus ist das einzige Hotel direkt am Fluß, hat einen alten Landesteg, eine neue Küche (Rotiserie), in der Gemüse und Frucht das Menü bestimmen, und dient oft als Filmkulisse. In der Bar singt Freddy Zimmermann den alten Zürcher Schlager „D’Meis isch mis Schränkli.“
In ihrer Profession als Receptionistin des Hotels erzählt Regula Hänny über das Geheimnis des Hauses: Stammkunden kommen dank der individuellen Betreuung immer wieder. Man lege keinen Wert auf ein „Luxushotel amerikanischer Prägung“, wichtig sei eine Mischung aus Tradition und modernem Lebensstil. Zimmer und Service findet man tatsächlich entsprechend vor. Zum bequemen Plüschstuhl gehört die Schale mit dem gesunden Obst auf dem Tisch daneben.
Flankiert ist der Storchen_vom Rathaus an der Limmat einerseits und von St. Peter andererseits. Die Kirche steht auf den Fundamenten eines erhöhten Tempels, den man höchstwahrscheinlich Iupiter geweiht hat. Das entspricht der Christianisierungstaktik. Aus dem blitzschleudernden Göttervater wirdWettermacher Petrus. In Zürich ehrt ihn eine Kirche mit einem mächtigen Turm und – dem_Storchen zur besonderen Ehre – mit einem der größten Zifferblätter (Durchmesser neun Meter) unserer Erde.
Ich sitze gerade mit meiner Hamburger Kollegin Jutta beim Frühstück, flinke Bedienungen, von denen eine aussieht wie meine Mutter in ihrer Jugend, sorgen für Nachschub am Büfett, dann lautes Glockengeläute von St. Peter, Regula Hänny zeigt uns das Gästebuch. Wir lesen die Namen: Ingeborg Bachmann, Hildegard Knef, Hannelore Elsner und Gabriele Wohmann, die 1978 kurz erklärt: „Schön war es wieder im Storchen.“
Überall Frauen, mag man denken. Und das in einer Stadt, die ihnen das Wahlrecht so lange und hartnäckig verweigerte. Oben auf dem Lindenhof, wenige Gehminuten vom Storchen entfernt, erfahren wir: Dieses Schicksal haben die Zürcherinnen wirklich nicht verdient. Auf halben Weg hinauf sehen wir zunächst ein Epitaphium (um 190) in Kopie mit dem Namen einer Frau, die in einem Atemzug mit der ersten Erwähnung der Stadt genannt wird: Aelia Secundina. Welch schöner Name! Ihr Wohnort erscheint als Turicen, der noch 1512 Thuregun heißt. Dann mutiert der Versalbuchstabe T zu Z:Turicen = Zürich. Wenige Städte nördlich der Alpen können sich einer so früher Nennung rühmen.
Wir steigen weiter zum Plateau mit der herrlichen Sicht über Stadt und Fluß. Unübersehbar unter dem Zürcher Himmel ein in Metall gegossenes fesches Mädchen in Rüstung. Es habe einst, so erzählt Fremdenführerin Monika, alle Zürcherinnen aufgerufen, sich in Rittermontur zu werfen und so den heranrückenden Feind zu erschrecken. Angesichts dieser Massen sei er dann wieder abgezogen. Ein Mädchen als Retterin der Stadt!
Gegenüber im Großmünster eine andere Schönheit: Sankt Katharina. Sie ist die Nachfolgerin der antiken Venus mit ihrem kleinen Schützen (Amor). Die Heilige wird als die schönste Frau im Himmel gelobt, erscheint – wie Venus auch – oft mit nacktem Oberkörper (Oratorio Santa Catharina in Palermo, in den Belles Heures des Duc de Berry) und im Kalender im Sternkreiszeichen Schütze (Amor). Verbindungen, die uns abermals die Taktik der urchristlichen Mission verraten und in der Krypta des Großmünsters sichtbar werden. Die heilige Katharina mit ihrem Symbol (Rad) liegt auf dem Boden. Ihre lasziv gespreizten Beine (einmalig in der Kunstgeschichte), das lange Haar der Venus, die entblößte Brust und ein jugendliches Gesicht erhellen das alte Sujet.
Während der Reformation zerstören die Zürcher das Gemälde, und so bleibt uns als Relikt eine phantastische Grundzeichnung. Nicht angetastet werden im 16. Jahrhundert dagegen die vielen Reliefs, der Portal- und Kapitellschmuck und Hunderte von Köpfen an den Außenwänden.
Zürich ist die Stadt der großen Dichter. Gottfried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und Max Frisch werden hier geboren. Literatur-Nobelpreisträger Canetti verbringt hier seine Kindheit, Georg Büchner stirbt hier. Daß aber in Zürich ein Klassiker der Weltliteratur zu keimen beginnt, wissen nur wenige. Dazu Literatur-Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann: „Ich habe ein Stück_Die Weber_geschrieben. In Zürich regte sich bereits sein embryonales Leben.“ Er fährt fort: „In und um Zürich blühte damals noch, und zwar seit dreihundert Jahren, die Seidenweberei. An den Stühlen saßen Handweber.“ Nach einiger Zeit, so schreibt der Dichter weiter, kommt ihm der Gedanke: „Du bist berufen,_Die Weber_zu schreiben! Der Gedanke führte sofort zum Entschluß.“
Die Sonnenzeichen deuten auf Christus (Sonntag ist der Tag des Herrn), der Hase in der Krypta auf Ostern, die Schachmuster auf Christkönig (Schah = König). Dieses Heilandlob erhöht während unseres Besuchs die Messa a quatro voci da capella von Monteverdi. Altstimme und Akustik einfach grandios!
Wir schließen für einen Moment die Augen, tausend Impressionen: Im romanischen Schifflauscht der Musik auch Johanna Spyri (1827 Hirzel bei Zürich). 1852 heiratet sie hier, dann schreibt sie Gedichte– und ein Stück Weltliteratur. Das Heidi kennen und lieben heute die Kinder zwischen Tokio und Toronto. Ein geniales Psychogramm, das die Bildung an die Spitze allen Erfolges stellt.
Eine außerordentliche Frau auch Anna Waser (1678 Zürich), die erste zu identifizierende und hochbegabte Künstlerin der Schweiz! Sie porträtiert sich selbst als Malerin: Ernster Blick, schwarzes Haar, bunte Tracht. Das Bild ziert heute das Kunsthaus der Stadt, eine wahre Perle, in einem prominenten Umfeld. In dieser zauberhaften Galerie hängen nämlich auch Selbstporträts von Picasso, Hodler, Corinth und van Gogh.
Bestechend schön im Kunsthaus auch Angelica Kauffmanns „Amor und Psyche“ (1792). Die Gesichtszüge des Mädchens Psyche gleichen denen einer ganz herzlichen Zürcherin, 14 Jahre jünger als die Malerin: Johanna Rahn. Sie ist die Tochter des Ratswagenmeisters Hartmann Rahn und dessen Ehefrau Johanna, einer Schwester des Dichters Klopstock, und hat ihre Hand einem der bedeutendsten deutschen Philosophen versprochen. Sie schreibt ihm Liebesbriefe, die zu den bewegendsten der Weltliteratur zählen. Als dann 1793 die Hochzeit bevorsteht, klärt sie ihn über die „Zürcher ètiquette“ auf. Er könne bei ihr auf gar keinen Fall logieren und auf die Trauung müsse man ein bißchen warten. „Sonst dörfen wir den aller vertrautesten, herzlichsten Umgang mit einander haben.“ Und weiter: „Theuerste Seele! Meine Seele bebt vor Entzüken, wenn es sich diese Freuden nur einen Augenblick denkt.“ Und wer ist der Geliebte? Johann Gottlieb Fichte.
Und ein weiterer berühmter Mann holt seine Frau aus der Stadt. Sie heißt Anna Berta Ludwig (1839 Zürich) und ist die Tochter des Gastwirts und Fechtmeisters Johann Ludwig. Und um dieses Mädchen wirbt ein um sechs Jahre jüngerer Student ohne Abitur und Geld. Vater ist gegen die Liebelei, doch die jungen Leute kommen nicht los von einander. 1870 promoviert der Freund, zwei Jahre später wirdgeheiratet. Der Fremde macht dann eine der grundlegenden Entdeckungen, die der Physik den Weg weisen. Sein Name: Wilhelm Conrad Röntgen. Er wird mit dem ersten Nobelpreis für Physik geehrt.
So berühmt wie berüchtigt ist Lydia Welti-Escher (1858 Zürich), Ehefrau eines reichen und einflußreichen Patriziers. Als 28jährige porträtiert sie Karl Stauffer-Bern (1857), der ihr aber zu tief in die Augen schaut. „Sie hat mich verführt, nicht ich sie“, schreibt der Künstler, dessen Meisterporträt von Gottfried Keller ebenfalls das Kunsthaus schmückt. Doch da sagt der Liebhaber nicht die Wahrheit, flieht er doch mit der Geliebten nach Rom, von wo aus sie die Scheidung von ihrem faden Eheherrn einreicht. Der Schwiegervater läßt sie daraufhin in der Ewigen Stadt verhaften und in eine Klinik sperren. Der Skandal erschüttert Zürich, doch die Verliebte kehrt nicht mehr in ihre Vaterstadt zurück.
Just als sich dieses Liebesdrama abspielt, steht eine andere Zürcherin im Rampenlicht. Ulrich Rudolf Krönlein (1847 Stein am Rhein), Chirurg an der Universitätsklinik, entfernt erstmals erfolgreich einem Menschen, in unserem Fall einer jungen Zürcherin, ein Sarkom der Lunge. Diese Operation erregt „weltweites Aufsehen“, konstatiert sein Nachfolger Sauerbruch. „Zum erstenmal war der Pessimismus der Chirurgen gegenüber Eingriffen im Brustkorb durchbrochen worden“, schreibt er, der Krönleins Nachfolger wird und in seinen Memoiren (Das war mein Leben) bekennt: „Die glücklichste Zeit meines Lebens verlebte ich in Zürich.“
Es ist die Zeit, in der man von der schönen und resoluten Frau in der Limmat-Stadt spricht. Schon 1887 trifft Ricarda Huch aus Braunschweig ein. Sie zählt 22 Lenze und sucht sofort eine Studentenbude. In ihren Erinnerungen (Frühling in der Schweiz) meint sie: „Und gleich das erste, das wir ansahen, gefiel mir; im Grunde mehr als das Zimmer - die Wirtin.“ Dann das Bekenntnis, „daß ich mich in Zürich mehr zu Hause fühlte als zu Hause“. Sie beeindrucken: „Die stilvollen und die heiteren Häuser, der großartige Wurf, mit dem die Stadt zwischen die Berge hingegossen ist, die Schwäne am Limmatufer, die krähenden Möwen, der festlich schimmernde See und das schneeige Band der Alpen am Horizont.“ Nach der Huch studiert in der Stadt die aus der Heimat geflüchtete Rosa Luxemburg, die hier 1897 promoviert.
Man spürt es auch in Zürich: Das alte Europa ist am Ende. 1916 treffen Lenin und seine Frau Nadeschda Krupskaja ein. Beide wähnen sich bei der Mieterin geborgen. Die Russin schreibt über die Zürcherin: „Lenin gefiel es, daß bei ihr alles einfach war, daß sie ihm den Kaffee in einer Tasse ohne Henkel vorsetzte, daß wir in der Küche aßen, daß die Unterhaltung einfach ungezwungen war.“
Genau das stört die Mutter des Literatur-Nobelpreisträgers Elias Canetti. Diese zeigt sich nach seinen Memoiren (Die gerettete Zunge) 1916 entsetzt darüber, wie man eine einfache Hausgehilfin hofiert. Der Sohn dazu: „Ein Dienstmädchen hieß hier Haustochter und aß mit an unserem Tisch. Das war die erste Bedingung, die ein Mädchen stellte, wenn es eintrat. Die Mutter, in ihrer hochfahrenden Art, fand das unerträglich.“ Ricarda Huch behandelt dieses Thema ebenfalls und schreibt über eine befreundete Hausherrin: „Ihr Mädchen, das für sie kochte, ließ sie mit am Tisch essen, eine demokratische Geste, die mir neu war und mir gut gefiel.“
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts treffen sich natürlich auch die Vertreter der Moderne in der Stadt: James Joyce, der sich von einer Zürcherin aushalten läßt, Stefan Zweig, Else Lasker-Schüler, Frank Wedekind, Franz Werfel und Ivan Goll. Letzterer muß sechs Franken Strafe zahlen, weil er mit seiner Freundin Claire in einem Hotelzimmer übernachtet, was die Bettgespielin zu dem Satz veranlaßt: „Die Schweiz verdient sogar an wilden Ehen.“
Auch Rilke schätzt den Kuß und Genuß im Hotel, wie seine ehemalige Geliebte Claire (identisch mit der oben Genannten) erzählt. 1919 stellt ihm in Zürich die schöne Gudi Nölke zur Seite. Ihr Freund hat mit Deutschland endgültig gebrochen und soll es nie mehr betreten. Die Stadt gewöhnt sich indes langsam an noch brutalere Zeiten. 1933 nimmt das Kabarett Die Pfeffermühle (mit Erika Mann an der Spitze) seine Arbeit im Haus Zum Hirschen auf. Ihr Vater Thomas Mann ist hier oft zu Gast, seine Frau Katja schreibt dazu: „Es war wirklich sehr hübsch, wie Erika das machte. Sie und Therese Giehse waren die Hauptsäulen.“
Nun das Überraschende: In Zürich weisen viele Haustafeln auf die einstigen Bewohner hin. Hier arbeitete Lenin, dort Gottfried Keller, hier starb Georg Büchner, dort residierte Bürgermeister Rudolf Stüssi. Doch ich lese am Hirschen nichts von den zwei Kabarettistinnen, kein Hinweis auf Frau Fichte, auf Frau Röntgen. Johanna Spyri ist offensichtlich ebenso wenig in Zürich gewesen wie Anna Barbara Schulthess (1745 Zürich), die berühmte Freundin Goethes, Amelie Pinkus-De Sassi (1910 Zürich), die unbeugsame Verfechterin des Frauenstimmrechts, und Emilie Benz (1863 Zürich), die legendäre Standespolitikerin im Schweizer Lehrerinnenverband. Wir lesen nichts von der Krupskaja, die ja noch lange nach dem Tod ihres Mannes eine führende Politikerin der Sowjetunion war,nichts von Rosa Luxemburg, Ricarda Huch, Kaiserin Elisabeth (Sissi) und Else Lasker-Schüler, nach Gottfried Benn „die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“.
Vielleicht ist der kleine Hinweis auf das Geburtshaus (Zur Alten Post) der Malerin Waser ein Anfang im Umdenken. Aber vielleicht muß man sich mit einer Bewußtseinsänderung ebenso lange gedulden wie mit dem Frauenstimmrecht. Ich erzähle dies an unserem letzten Abend beim Gang durch das nächtliche Zürich meiner Kollegin Jutta. Sie lächelt so, als wollte sie an Gottfried Benns Vers erinnern:
„Meinen Sie Zürich zum Beispiel
sei eine tiefere Stadt,
wo man Wunder und Weihen
immer als Inhalt hat?“