Noch immer gilt Haarausfall für Betroffene als Makel, den man lieber nicht haben will. Nicht nur ein teilweise sehr hoher Leidensdruck, sondern auch die Sorge um das eigene Erscheinungsbild sind dabei Ausschlag gebend, sondern vor allem die Angst vor dauerhaftem Haarverlust.
100.000 Haare sprießen auf unseren Köpfen mit einem Zyklus der Wachstumsphase, die bis zu sieben Jahre dauern kann, und der eine mehrmonatige Ruhephase folgt. Ist dieser Zyklus abgeschlossen, verlieren wir bis zu 100 Haaren pro Tag, um anschließend das Wachstum von vorne zu starten. Aber verschiedene Einflußfaktoren können diese Phasen massiv beeinträchtigen. Schon nach zwei bis vier Monaten macht sich diese Störung des Wachstumszyklus durch verstärkten Haarausfall am ganzen Kopf bemerkbar. Die Medizin nennt dies auch diffuses Effluvium. Der diffuse Haarausfall trifft vor allem Frauen und die Ursachen liegen sehr oft weit in der Vergangenheit. Er hat allerdings nicht mit erblich bedingten Haarausfall zu tun, der beide Geschlechter betrifft und in aller Regel schleichend einhergeht.
Zu den unterschiedlichen Haarausfall-Ursachen haben wir den spezialisierten Haarchirurgen und Dermatologen Dr. Andreas Finner und den Endokrinologen Univ.-Prof. Dr. med. Joachim Feldkamp von der Universitätsklinik für Endokrinologie und Diabetologie am Klinikum Bielefeld um Erklärungen gebeten. Beide Ärzte sind sich darüber einig, dass der Gang zum Arzt immer der erste Schritt hin zu einer erfolgreichen Behandlung des Haarausfalls sein sollte.
Dr. Finner: Um die Ursache für den Haarausfall zu finden und eine zielgerichtete Behandlung einleiten zu können, ist eine genaue Diagnostik unabdinglich. Denn neben genetisch bedingten Faktoren gehören unter anderem Störungen im Hormonhaushalt, Medikamente, aber auch Schlafmangel, eine einseitige Ernährung oder vermehrter Stress zu den Faktoren, die das Haarwachstum beeinträchtigen können.
Das heißt, dass auch die Schilddrüse mit ihren Hormonen einen unmittelbaren Einfluss auf das Haarwachstum hat. Denn Schilddrüsenhormone wirken sich u. a. auf das Wachstum der Haarfollikelzellen sowie die Bildung von Keratin, dem Hauptbestandteil der Haare, aus.
Prof. Dr. Joachim Feldkamp: Daher kann es sowohl bei einer Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose), als auch bei einer Überfunktion (Hyperthyreose), zu vermehrtem Haarausfall kommen. Wird die zugrundeliegende Schilddrüsenerkrankung erkannt, kann diese erfolgreich behandeln werden, wonach sich in aller Regel auch das Haarwachstum nach einiger Zeit wieder normalisiert.
Ob ein diffuser Haarausfall ein Zeichen für eine Störung der Schilddrüsenfunktion sein könnte, muss unbedingt abgeklärt werden. Typische Veränderungen der Haare, die sich u. a. in Form von brüchigem und sprödem Haar zeigen, weisen tatsächlich häufig auf eine Schilddrüstenunterfunktion hin.
Dr. Andreas Finner: Die Haare lassen sich außerdem schlechter frisieren. Langfristig macht sich der diffuse Haarausfall bemerkbar. Die Patientinnen und Patienten mit einer Schilddrüsenunterfunktion klagen auch oft über Symptome wie vermehrtes Frieren, Müdigkeit, depressive Verstimmungen, Verstopfung oder Gewichtszunahme.
Ist diese Unterfunktion stark ausgeprägt, kann auch ein meist seitlich betonter Ausfall der Augenbrauen auftreten.
Das Gegenteil, nämlich eine Schilddrüstenüberfunktion zeigt sich ingegen in dünner werdendem und diffus ausfallendem Haar, bei der das Haarwachstum teils unterbrochen ist. Auch vermehrtes Schwitzen, Nervosität, Herzrasen, Durchfall und Gewichtsverlust zählen zu weiteren Symptomen einer Überfunktion.
Prof. Dr. Joachim Feldkamp: Starke Überfunktionen treten meist bei einem Morbus Basedow auf. Diese Autoimmunerkrankung führt zu einer vermehrten Produktion von Schilddrüsenhormonen. Auch zu Beginn einer Hashimoto- Thyreoiditis, ebenfalls eine autoimmune Schilddrüsenerkrankung, kann es vorübergehend zur Überfunktion und zeitverzögert zu diffusem Haarverlust kommen. Generell leiden Frauen etwa zehnmal häufiger an einer Hashimoto-Thyreoiditis und sechsmal häufiger an einem Morbus Basedow als Männer.
Auch „heiße“ Schilddrüsenknoten (Autonome Adenome) verursachen mitunter eine Überfunktion mit Haarausfall. Diese Funktionsstörung entwickelt sich aber eher langsam und betrifft fast ausschließlich ältere Menschen. Ein geringer Teil der Patient:innen mit Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse ist auch von kreisrundem Haarausfall (Alopezia areata) betroffen. Die Behandlung der damit verbundenen Schilddrüsenfunktionsstörung kann den kreisrunden Haarausfall allerdings nicht heilen. Hier ist die fachkundige Betreuung durch eine Hautärztin oder einen Hautarzt gefragt.
Je eher, desto besser lautet die Devise und kann im Idealfall auch dem Verlust weiterer Haare vorbeugen. Die Therapiemöglichkeiten reichen von der leitliniengemäßen Behandlung mit Medikamenten bis hin zur fachärztlichen Haartransplantation.
Dr. Andreas Finner: Wer einen länger als sechs Wochen anhaltenden Haarausfall mit vielen leicht herausziehbaren Haaren beim Waschen und Kämmen oder sichtbare Lücken bemerkt, sollte sich frühzeitig zur weiteren Diagnostik in die hausärztliche Praxis begeben. Im Anschluss können bei einer dermatologischen Haarsprechstunde das weitere Vorgehen und die Therapiemöglichkeiten besprochen werden. Es ist auf jeden Fall nicht sinnvoll, monatelang diverse Haarwuchsmittel oder Ähnliches ohne klare Diagnose auszuprobieren. So geht nur wertvolle Zeit verloren.“
Wurde als Ursache eine Schilddrüsenerkrankung für einen diffusen Haarausfall festgestellt, rückt deren Behandlung in den Fokus.
Prof. Dr. Joachim Feldkamp: Die Behandlung des Morbus Basedow erfolgt zunächst mit Schilddrüsenhemmern, sogenannten Thyreostatika. Kommt es nach ein bis zwei Jahren zu keiner Heilung, wird eine Radiojodtherapie oder operative Entfernung der Schilddrüse in Betracht gezogen. Beide Therapieformen schalten die Schilddrüsenfunktion vollständig aus, was eine lebenslange Einnahme des Schilddrüsenhormons L- Thyroxin erforderlich macht. Die anfängliche Überfunktion bei der Hashimoto-Thyreoiditis wird nur symptomatisch für einige Wochen mit Betablockern behandelt. Langfristig entwickeln die meisten Patientinnen und Patienten eine behandlungsbedürftige Schilddrüsenunterfunktion.
Bei autonomen Funktionsstörungen aufgrund heißer Schilddrüsenknoten kommen zu Beginn Schilddrüsenhemmer zum Einsatz, wobei sich jedoch in den meisten Fällen schnell eine Radiojodtherapie, Operation oder als neue Therapieform eine sogenannte Thermoablation oder Radiofrequenzablation anschließt. Bei der Radiojodtherapie wird mithilfe leicht radioaktiven Jods gezielt der überaktive Schilddrüsenknoten zerstört. Die Thermo- oder Radiofrequenzablation setzt dafür auf eine Hitzeentwicklung an dem Gewebe mittels hoch fokussierten Ultraschalls oder Hochfrequenzstrom. Schilddrüsenunterfunktionen werden in der Regel durch die Gabe von Schilddrüsenhormonen (z. B. L-Thyroxin) behandelt.
Prof. Dr. Joachim Feldkamp: Die gute Nachricht ist, dass die Haare, die durch eine Schilddrüsenfunktionsstörung ausfallen, durch die Behandlung wieder nachwachsen. Bei einer Unterfunktion kann dies einige Monate dauern, wohingegen es bei der Überfunktion meist schneller zu normalen Schilddrüsenwerten und somit zu einem normalen Haarwachstum kommt.“
Gut zu wissen: Vom 8.- 12. Mai findet die Schilddrüsenwoche mit bundesweiten Untersuchungs- und Informationsangeboten in Arztpraxen statt. Weitere Informationen dazu findet man unter