Der weibliche Körper hat heutzutage gertenschlank und obendrein durchtrainiert zu sein. Eine knabenhafte-fragile Figur mit festen Brüsten wird unablässig propagiert. Mit dem dringenden Verlangen nach Schlankheit und einer Traumfigur hat die Magersucht nur vordergründig zu tun. Die Anorexia nervosa ist durch ein organisches Krankheitsbild mit einer Vielfalt körperlicher Symptome gekennzeichnet und zählt gleichermaßen zu den Abweichungen und schweren seelischen Störungen des normalen Essverhaltens.
Das Krankheitsbild der Anorexia nervosa ist bereits 1873 erstmals beschrieben worden. Da aber erst 100 Jahre später die Diagnose häufiger gestellt wird, vermag niemand zu sagen, ob die Erkrankung wegen der gesellschaftlichen Vorgaben häufiger auftritt als zu früheren Zeiten. Wörtlich übersetzt bedeutet Anorexie “Appetitverlust oder –verminderung” – eine irreführende Bezeichnung, da nicht unbedingt der Appetit, sondern das Essverhalten gestört ist. Der Zusatz “nervosa” weist auf die psychischen Ursachen der Essstörung hin. Die Unterscheidung der Anorexie von der anderen bekannten Essstörung, der Bulimie, ist oft schwierig.
Der Übergang ist jedoch oft fließend. Bei vielen Patientinnen kommt es zu einer Vermischung von Symptomen und dann wird von einer Bulimanorexie gesprochen.
Die Anorexie tritt häufig während der schwierigen Pubertätsphase auf. Das Mädchen entwickelt sich zur Frau und muss eine neue Identität finden. Fühlt sich die Betroffene allein gelassen und überfordert, entsteht ein Gefühl der Unsicherheit. Der Versuch, Kontrolle über das Körpergewicht zu gewinnen, vermittelt das Empfinden von Sicherheit. Das Körpergewicht wird demnach zu einer entscheidenden Quelle des Selbstwertgefühls. Schon leichtes Übergewicht gilt insbesondere bei Frauen als gesellschaftlicher Makel, da nur gertenschlanke Frauen erfolgreich und beliebt zu sein scheinen. Gerade junge Frauen, die während der Pubertät körperliche Entwicklungsprozesse durchleben und erst ein Gefühl für ihren veränderten Körper entwickeln müssen, werden durch das überall propagierte Schlankheitsideal stark verunsichert.
Die Betroffenen nehmen sich selbst als “zu fett” wahr und befürchten, zu dick zu werden. Dies führt zu einer selbst auferlegten, sehr niedrig angesetzten Gewichtsschwelle. Trotz gegenteiliger Versicherungen des Umfeldes halten Magersüchtige an ihrer Überzeugung fest. Der Fachausdruck hierfür lautet Körperschemastörung. Das Körpergewicht liegt dabei mindestens 15% unter dem normalen oder je nach Alter zu erwartenden Gewicht. Aufgrund des Untergewichtes werden durch hormonelle Störungen körperliche Symptome verursacht. Die Menstruation bleibt aus. Falls die Störung schon vor der Pubertät beginnt, werden Wachstum und Entwicklung verzögert oder gehemmt. Bei Einnahme der Pille kommt es bei anorektischen Frauen weiterhin zur Monatsblutung. Haarausfall, trockene fahle Haut, niedriger Blutdruck und Puls, können weitere Symptome sein. Häufig zeigen sich Stimmungsschwankungen bis hin zu depressiven Episoden, die auch selbstverletzendes Verhalten einschließen können.
Ein Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und Essstörungen wurde erstmalig von US-Autorinnen vermutet und publiziert. In einer von ihnen untersuchten Gruppe essgestörter Patientinnen stellten sie bis zu 69% sexuell missbrauchte Frauen und Mädchen fest. Deutsche Studien konnten diesen hohen Anteil jedoch nicht bestätigen. Untersuchungen ergaben, dass die Anfälligkeit für psychophysische Störungen nach dem Erleben sexueller Gewalt ganz allgemein steigt. Ein konkreter Zusammenhang mit Essstörungen ließ sich jedoch nicht herstellen.
Rund 1% der heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen zwischen 12 und 25 Jahren leiden an Magersucht. Bei Frauen ist die Erkrankung etwa zehn Mal häufiger anzutreffen als bei Männern. Die Betroffenen unterziehen sich nicht nur einer strengen Diät, sie fasten oder nehmen nur noch kalorienarme Speisen wie Salat zu sich. Selbstverursachtes Erbrechen geht häufig mit der heimlichen Einnahme von Appetitzüglern, Abführmitteln, Schilddrüsenpräparaten und Diuretika einher. Die Betroffenen neigen zu übertriebenen körperlichen Aktivitäten, indem sie exzessiv Sport betreiben. Viele Patientinnen sind sehr ehrgeizig und leistungsorientiert. Diese Mechanismen ähneln denen, die sich bei Suchtkranken beobachten lassen. Hierdurch kommt es zu einer Gewichtsabnahme von 25 - 52% des Sollgewichtes.
Bei medizinischen Komplikationen und extrem vermindertem Körpergewicht müssen zunächst lebenserhaltende Maßnahmen im Vordergrund stehen. Eine Klinikeinweisung ist dann unumgänglich. Unter Umständen wird zur Abwehr akuter Lebensgefahr eine Zwangsernährung gegen den Willen der Betroffenen notwendig sein. Wegen des Osteoporose-Risikos werden bei Mädchen und jungen Frauen Östrogene und Calcium-Fluorid eingesetzt. Andere Medikamente kommen je nach den medizinischen Folgekomplikationen zum Einsatz. Bei gleichzeitiger Depression werden Antidepressiva verordnet.
Im psychotherapeutischen Bereich werden sowohl tiefenpsychologische als auch verhaltenstherapeutische Verfahren angewendet. Familien- und Partnertherapie, Entspannungstechniken sowie Übungen zur Körperwahrnehmung zählen zu den Möglichkeiten einer nichtmedikamentösen Behandlung, die in enger Zusammenarbeit mit dem behandelnden Arzt die größte Aussicht auf Erfolg bieten. Auch die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe kann den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Anorektische junge Mädchen und Frauen benötigen Konzepte für die Bewältigung von Problemen. Dabei werden verschiedene Lösungsalternativen entwickelt, die den Patientinnen bei alltäglichen Schwierigkeiten Hilfestellungen bieten, bei denen sie sonst nur auf ihr Essverhalten als Mittel der Bewältigung zurückgegriffen haben. Ein wichtiges Ziel ist die Stärkung des Selbstwertgefühls, das nicht allein vom Körpergewicht abhängig gemacht werden kann.
Werden Reaktionsmuster, die zu der Essstörung beigetragen haben, unterbrochen, ist der erste Schritt auf dem Wege zu Besserung getan. Eltern sind dankbar, wenn sie im Umgang mit der Erkrankung ihres Kindes sowohl von einem Arzt ihres Vertrauens als auch von einem Therapeuten unterstützt werden. Die Adressen von Selbsthilfegruppen können bei den zuständigen Gesundheitsämtern erfragt werden.
Bei etwa 30% der Patientinnen kommt es nach einer Behandlung zu einer vollständigen Besserung. Sie erreichen zumindest annähernd das Normalgewicht und haben regelmäßig ihre Menstruation. Bei 35% kommt es zu einer Gewichtszunahme, aber das Normalgewicht wird nicht annähend erreicht. Das Krankheitsbild bleibt bei ca. 25% der Betroffenen chronisch bestehen und etwa 10% sterben infolge der Magersucht.
Magersucht
Anorexia Nervosa