Wer kennt ihn nicht, den kleinen, halbparasitisch auf Bäumen lebenden Strauch mit seinen weißen Beeren, dem schon die Germanen und Kelten Heil- und Zauberkräfte nachgesagt haben? Und wer wünschte es sich noch nicht, unter einem Mistelzweig geküsst zu werden, damit die Liebe ewig halte?
Berühmte Gelehrte und Ärzte, wie der Römer Plinius (23 - 79) oder Paracelsus (1493 - 1541) waren von der Wirkung der Mistel gegen Epilepsie überzeugt. Hildegard von Bingen (1098 - 1179) empfahl die Arzneipflanze gegen erfrorene Gliedmaßen und Pfarrer Sebastian Kneipp (1821 - 1897) setzte sie gegen Frauenleiden ein.
Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Mistel erstmals in der Krebstherapie angewendet. Dies beruhte weder auf einer traditionellen, noch einer experimentellen Grundlage, sondern lediglich auf der Beobachtung des Anthroposophen Rudolf Steiner (1861 - 1925), der das Aussehen der Pflanze mit einer Krebsgeschwulst verglich: Ebenso wie der Krebs wächst die Mistel am falschen Ort (statt in der Erde auf einem Baum), trägt Früchte zur falschen Zeit (im Winter statt im Sommer) und ernährt sich parasitisch von seinem Wirt.
Allein aus dieser Beobachtung folgerte Steiner, dass die Mistel eine gute Waffe im Kampf gegen den Krebs sei.
Obwohl die Mistel also nur aufgrund ihres Äußeren Einzug in die Krebstherapie gehalten hat, hat sie sich in den Köpfen der Menschen fest eingenistet und ist für viele Tumorpatienten der letzte rettende Strohhalm in ihrer Verzweiflung.
In Schulmedizinerkreisen ist die Misteltherapie umstritten und wird fast ausschließlich in Deutschland, Österreich und der Schweiz angeboten (in den USA ist sie sogar verboten und darf nur innerhalb klinischer Studien angewendet werden).
Die tumorbekämpfende und immunstimulierende Wirkung der Mistel wurde und wird viel beforscht. Inzwischen kennen Wissenschaftler mehr als 600 verschiedene Proteine und über 1000 Enzyme der Pflanze. Besonders interessant sind dabei die im Mistelkraut enthaltenen „Mistellectine“, die Mediatoren (Zytokinine) im Organismus freisetzen und das Immunsystem stimulieren und den Tumor schrumpfen lassen können. Allerdings haben Zytokinine zwei Gesichter: Sie können ebenfalls zur Teilung von Tumorzellen beitragen, so dass der Tumor stärker zu wachsen beginnt.
Diese „paradoxe“ Wirkung spiegeln viele Untersuchungen wider: Einige Studien zeigten eine positive Wirkung der Mistel auf das Tumorwachstum. Leider sind die Ergebnisse aufgrund mangelnder wissenschaftlich standardisierter Durchführungen sehr fragwürdig 1 2 3 4 5. Die bislang durchgeführten Laboruntersuchungen, die Hinweise darauf gaben, dass ein Tumorwachstum gehemmt werden könnte, sind leider ebenfalls nicht aussagekräftig, da sie nur an Zellkulturen oder Tieren durchgeführt wurden und somit die Ergebnisse nicht kurzerhand auf den Menschen übertragbar sind. Genauso gibt es aber auch Laboruntersuchungen, die das Gegenteil festgestellt haben: Verstärktes Tumorwachstum durch Mistelpräparate!
Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass sich Patienten mit einer Misteltherapie allgemein besser fühlen und ihre Lebensqualität insbesondere während einer Chemotherapie weniger leidet 6 7 8. So beurteilte die ehemalige Kommission E (Phytotherapie) des Bundesgesundheitsamtes die Anwendung von Mistelkraut in der Palliativtherapie (Sterbebegleitung) im Sinne einer unspezifischen Reiztherapie bei malignen Tumoren als positiv.
Unumstritten ist bei Schulmedizinern die Erkenntnis, dass das „Experiment“ Misteltherapie keinesfalls bei allen Tumorarten durchgeführt werden darf:
sollten NICHT mit Mistelpräparaten behandelt werden Arbeitsgemeinschaft der medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften AWMF! Auch bei Kindern, Schwangeren und stillenden Patientinnen empfiehlt die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) aufgrund mangelnder Untersuchungen, von einer Einnahme Abstand zu nehmen 9.
Gerade bei lebensbedrohlichen Erkrankungen ist es wichtig, einen Arzt zu finden, dem man vertraut und mit dem man seine Sorgen und Nöte teilen kann!
Die drei wichtigsten Pfeiler in der Krebstherapie lauten: Chirurgie, Chemotherapie und Bestrahlung
Wenn Sie sich zusätzlich für eine Misteltherapie interessieren, so sprechen Sie Ihren Arzt darauf an. Er wird mit Ihnen die Vor- und Nachteile abwägen und Ihnen eventuell - jedenfalls zu diesem Zeitpunkt - davon abraten. Haben Sie Vertrauen und greifen Sie keinesfalls „heimlich“ zu Mistelpräparaten!
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