Atropin-Augentropfen schützen am besten gegen Kurzsichtigkeit, auch bei Kindern. Denn Kurzsichtigkeit beginnt gewöhnlich im Grundschulalte und begünstigt später schwere Augenerkrankungen. Daher sollte man sie möglichst früh aufhalten. Nun haben Forscher einen Ansatz für eine niedrig dosierte Therapie mit dem Wirkstoff Atropin gefunden, die “…nebenwirkungsarm ist und das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit bei Kindern um bis zu 50 Prozent mindern kann”.
Atropin ist eine Substanz aus der Tollkirche und seit Jahren in der Augenheilkunde bekannt. „Wegen ihrer Nebenwirkungen – Blendung und Nahsichtstörung – wurden Atropin-Tropfen zu diesem Zweck aber kaum verordnet“, erklärt Professor Dr. med. Wolf Lagrèze. Doch das hat sich jetzt geändert, da Forscher aus Singapur haben eine Konzentration fanden, die das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit um bis zu 50 Prozent mindert und gleichzeitig weitgehend nebenwirkungsfrei ist. „Leichte Blendungs- empfindlichkeit und Nahsichtstörung bilden sich darüber hinaus bei Absetzen vollständig zurück, so dass kein Schaden entsteht“, fügt der Freiburger Ophthalmologe hinzu.
Zu den am stärksten zunehmenden Augenproblemen weltweit gehört die Kurzsichtigkeit, auch Myopie genannt. In Europa sind derzeit schon 47 Prozent aller 25-jährigen betroffen, in einigen asiatischen Ländern sogar bis zu 96 Prozent der 20-jährigen. Die Weltgesundheitsorganisation listet Myopie inzwischen zu den fünf Augenerkrankungen, deren Eindämmung höchste Priorität hat – Kurzsichtigkeit ist ein Hauptrisikofaktor für ernste Augenleiden wie Makuladegeneration, Netzhautablösung und Glaukom.
Zu den Ursachen für das Anwachsen der kindlichen Kurzsichtigkeit zählen die Forscher neben genetischen Anlagen auch ein verändertes Freizeit-, Lern- und Arbeitsverhalten. „Verstärkte Naharbeit durch Lesen, Computernutzung oder Smartphone fördert Myopie“, erläutert Lagrèze. „Das gleiche gilt für die Tendenz, sich immer weniger draußen unter freiem Himmel aufzuhalten.“ Um den Anstieg zu stoppen und umzukehren, setzen Experten weltweit vor allem auf Medikamente wie Atropin-Augentropfen, korrigierende Brillengläser, Kontaktlinsen und natürliches Tageslicht. Atropin ist ein Nervengift, das aus der Tollkirsche gewonnen wird und in medizinisch unbedenklicher Dosis häufig in der Medizin angewendet wird – etwa, um die Pupillen weit zu stellen.
Wie wirkungsvoll diese Maßnahmen im Einzelnen sind, zeigte bereits 2016 die Auswertung von sechzehn randomisierten und kontrollierten Interventionsstudien. Und schon 2016 wußte man, dass Atropin-Tropfen hochdosiert eine Myopie-Zunahme von 0,68 Dioptrien (D) pro Jahr verhindern, dicht gefolgt von niedrig dosierten Atropin-Tropfen mit 0,53 D. Dann folgen Kontaktlinsen mit 0,21 D jährlich. Zwei Stunden Tageslicht täglich schützen vor einem Verlust von 0,14 D, gleichauf mit Gleitsichtbrillen.
„Dass Atropin Kurzsichtigkeit effektiver bremst als Kontaktlinsen oder Tageslicht, deckt sich mit unseren bisherigen Annahmen“, kommentiert Lagrèze. Dennoch werfe die Meta-Analyse eine wichtige Frage auf. „Die Behandlungen könnten womöglich bei asiatischen Kindern besser anschlagen als bei europäischen“, berichtet der DOG-Experte. Daher müssten dringend Studien auch mit deutschen Kindern auf den Weg gebracht werden. „Bis hier Ergebnisse vorliegen, sind Schulen und Eltern gefordert, bei Kindern auf eine ausreichende Versorgung mit Tageslicht zu achten“, so Lagrèze. Wie gut die „Tageslichttherapie“ funktioniert, zeigt das Beispiel Taiwan. Dort müssen Kinder während der Schulzeit täglich zwei Stunden ins Freie, nach dreißig Minuten Lesen folgen zehn Minuten Pause von der Nahsicht. Ergebnis: In Taiwan ist die kindliche Kurzsichtigkeit seit 2012 wieder rückläufig.
Derweil verordnen Augenärzte in Deutschland bereits jetzt schon vielfach Atropin im sogenannten Off-Label-Use. Kinderophthalmologe Lagrèze, der die Tropfen inzwischen immer häufiger verschreibt, berichtet von ermutigenden Erfahrungen mit dem Präparat. „Die ersten Rückmeldungen sind positiv, das Medikament ist in der geringen Konzentration gut verträglich“, so Lagrèze. Der DOG-Experte empfiehlt, Atropin in einer Konzentration von 0,01 Prozent über mehrere Jahre vor jedem Schlafengehen jeweils mit einem Tropfen in beide Augen zu geben.
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