Der plötzliche, starke Schmerz im oberen Rückenbereich überfiel Siegrid Fehr (77) ganz überraschend, sie konnte ihn nicht zuordnen. Ihre Kinder riefen den Notarzt, der ein Problem mit der Wirbelsäule vermutete und die damals 70-Jährige für weitere Untersuchungen ins Krankenhaus bringen ließ. In den folgenden zwei Wochen wurde sie von Kopf bis Fuß untersucht: Eine Wirbelsäulenerkrankung konnte ausgeschlossen werden, das Herz wurde gecheckt, die Lunge geröntgt. Nach einer Lungen-Bronchoskopie 1 sprach ihr Arzt das erste Mal von Krebs als möglicher Ursache. Und diese Befürchtung bestätigte sich schlimmer als gedacht: Lungenkrebs, Endstadium. „Das war ein riesiger Schock, damit hatte ich niemals gerechnet“. Die Rentnerin wurde nach Jena ins Uniklinikum überwiesen. Dort sagte man ihr, dass sie eigentlich eine neue Lunge bräuchte und keine Operation möglich sei. Stattdessen wurde eine Chemotherapie angeordnet, die im dreiwöchentlichen Rhythmus durchgeführt werden sollte – bis zu ihrem Tod.
Im ersten Jahr empfand die gebürtige Naumburgerin die Therapie als nahezu unerträglich. Sie litt unter permanenter Schwäche und verschiedenen körperlichen Nebenwirkungen: Die Verdauung funktionierte nicht, sie hatte kaum Appetit, oft war ihr schwindelig und schlecht. Es gab Tage, da bewegte sie sich in ihrer Wohnung auf allen Vieren. Zu den körperlichen Beschwerden kamen psychische: Gefangen in depressiver Leere und Angst waren alle Lebensfragen dem Gefühl der Ausweglosigkeit gewichen. Ihr absoluter Tiefpunkt an einem Tag, als es ihr besonders schlecht ging und sie keinen Ausweg mehr sah, sollte dann aber zum Wendepunkt werden: „Plötzlich spürte ich: Ich will leben“, erinnert sich Siegrid Fehr, „es gab noch Träume, die ich wenigstens versuchen wollte, mir zu erfüllen.“ Sie stellte sich dem Krebs, informierte sich im Internet, suchte Experten auf, las Artikel über schulmedizinische Erkenntnisse und neuartige Lösungsansätze.
In Bad Berka fand sie eine Onkologin, die ihr wirklich weiterhalf: Dr. Doreen Jaenichen ist Fachärztin für Allgemeinmedizin und absolvierte zusätzlich Ausbildungen in Naturheilkunde, Homöopathie und Akupunktur. Die Ärztin verhalf Siegrid Fehr zu ihrem bis heute gelebten Credo: ‚Ich mache weniger gegen den Krebs und mehr für mein Immunsystem‘. Langsam erweiterte sie in Eigenregie die Pausen zwischen den Chemotherapien von drei- auf achtwöchentlich. Gleichzeitig sprach sie mit Dr. Jaenichen über komplementäre Therapieansätze, um die Nebenwirkungen der Chemo zu mildern und somit wieder leistungsfähiger zu sein.
Aus ihrem Bekanntenkreis riet ihr eine Frau, die ihren Brustkrebs besiegt hatte, auch eine Misteltherapie anzuwenden. Dazu besprach sich Siegrid Fehr mit Dr. Jaenichen, die selbst langjährige Erfahrungen mit Mistelinjektionen als unterstützende Maßnahme für ihre Krebspatientinnen besitzt. „Die Mistel verhilft zu mehr Lebensqualität“, erklärt sie, „und das ist es, was eine dem Menschen zugewandte Krebsbehandlung für mich bedeutet: nicht nur dem Leben mehr Tage, sondern auch den Tagen mehr Leben zu geben“. Vor Beginn der Therapie gilt es die richtige Dosierung zu ermitteln, dann sei sie nach Dr. Jaenichens Erfahrung im Allgemeinen für jede Patientin sehr gut verträglich. Nachdem die passende Dosierung gefunden und Siegrid Fehr die Handhabung der Spritze erklärt worden war, konnte die Misteltherapie starten.
Das war vor sechs Jahren. Heute injiziert die Hobby-Schriftstellerin, die auch schon ihre eigene Biographie veröffentlicht hat, noch immer täglich eine Mistelspritze (in ihrem Fall ein Tannenmistelextrakt). Das gehört ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag, den sie inzwischen wieder gut bewältigt. Es geht ihr viel besser, die Nebenwirkungen der Chemotherapie sind deutlich geringer, sie genießt ihr Leben in den beschwerdefreien Zeiten. Jeden Morgen macht die 77-Jährige mit ihrem Mann einen Spaziergang, morgens und abends meditiert sie, sie verreist gerne, spielt Klavier und Orgel, lernte erst kürzlich Englisch und ist nun auch der Gebärdensprache mächtig. Sie liest, strickt und fährt auch noch Auto - außerdem kocht sie gerne. Die im Rahmen der Krebstherapie erfolgte Ernährungsumstellung hin zu vollwertiger, gesunder Kost war kein großer Aufwand. „Ich hätte nie gedacht, dass es mir wieder gut gehen könnte“, sagt sie heute.
Eine Lungen-Bronchoskopie ist eine Untersuchung, bei der der Arzt mittels eines Schlauchs, der durch die Luftröhre geschoben wird, den Zustand der Atemwegsschleimhäute überprüfen kann. ↩