Was steckt dahinter? Versuch einer Begriffsdefinition
“Alex… was bitte?” die wenigsten von uns wissen mit dem Wort Alexinomie etwas anzufangen. Und dies verwundert auch nicht, denn es ist ein relativ neuer und wenig etablierter Begriff in der medizinischen und psychologischen Fachliteratur. Pate standen die griechischen Wörter „álexis“ (Abwehr, Schutz) und „nómos“ (Gesetz, Ordnung), grob kann man dies als „Ordnung der Abwehr“ oder „Gesetz der Abgrenzung“ interpretieren. In gesundheitspsychologischen Diskursen beschreibt man Alexinomie als die Fähigkeit oder Störung der emotionalen und kommunikativen Selbstabgrenzung, vor allem im sozialen und psychosomatischen Kontext. Weniger gespreizt könnte man die Alexinomie auch als eine Art „emotionale Immunschwäche“ verstehen. Diese Schwäche beinhaltet die Tatsache, dass Betroffene häufig nicht in der Lage sind, emotionale, psychische oder soziale Belastungen effektiv abzuwehren oder zu verarbeiten. Und eigentlich klar, dass sich diese “Schwäche” sowohl psychisch als auch somatisch negativ auswirken kann.
Zum Verständnis ein fiktives Fallbeispiel
Anna, 36 Jahre alt, arbeitet als Krankenschwester. Sie ist ständig für andere da, sagt selten „Nein“, leidet unter Rückenschmerzen, Magenproblemen und Schlafstörungen. In der Therapie zeigt sich: Ihre Mutter war depressiv, Anna übernahm früh Verantwortung. Sie lernt nun in der Therapie, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und Grenzen zu setzen. Nach 9 Monaten verbessert sich ihr Gesundheitszustand deutlich.
Symptome und Erscheinungsformen
Menschen mit einer gestörten Alexinomie zeigen oft folgende Symptome:
Psychische Symptome
- übermäßige Anpassung an andere (People-Pleasing)
- Schwierigkeiten, „Nein“ zu sagen
- Verlust des eigenen emotionalen Standpunkts
- Überempfindlichkeit gegenüber Kritik oder Ablehnung
- innere Leere oder Identitätsprobleme
Somatische Beschwerden (Psychosomatik)
- Magen-Darm-Probleme (Reizdarmsyndrom, Gastritis)
- chronische Erschöpfung (Fatigue)
- Tension-Kopfschmerzen oder Migräne
- Hautprobleme (Ekzeme, Neurodermitis)
- Immunschwäche (häufige Infekte)
Soziale Merkmale
- Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen
- häufige Überlastung durch fehlende Grenzen
- Tendenz zu co-abhängigen Beziehungen
Ursachen und Entstehung
Die Entstehung einer alexinomischen Störung ist häufig biopsychosozial bedingt:
Psychologische Ursachen
- frühkindliche Erfahrungen von emotionaler Vernachlässigung
- Parentifizierung (das Kind übernimmt Elternrollen)
- erlernte Hilflosigkeit und unterdrückte Autonomie
- fehlende emotionale Resonanz in der Kindheit
Soziale Faktoren
- gesellschaftliche Idealbilder von Selbstaufopferung und Hilfsbereitschaft
- Leistungsdruck und emotionale Überforderung in Beruf und Alltag
- fehlende emotionale Bildung in der Schule und in der Familie
Biologische Aspekte
- Neurobiologische Dispositionen (z. B. erhöhter Cortisolspiegel)
- Empfindlichkeit des vegetativen Nervensystems (VNS)
- genetische Veranlagungen im Bereich Stressverarbeitung
Gesundheitsrelevanz von Alexinomie
Die langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen einer unbehandelten Alexinomie sind erheblich und betreffen mehrere Ebenen:
Psychische Gesundheit
- Risiko für Depressionen, Angststörungen und Burnout steigt
- häufige psychosomatische Reaktionen führen zu Fehldiagnosen
- reduzierte Resilienz und mangelnde Stressbewältigung
Körperliche Gesundheit
- erhöhte Entzündungswerte durch chronischen Stress
- Schwächung des Immunsystems
- Risiko für Autoimmunerkrankungen
Soziale Gesundheit
- Isolation durch emotionale Überforderung
- Beziehungskonflikte durch mangelnde Selbstabgrenzung
- verminderte Lebensqualität
Diagnostik
Da Alexinomie (noch) keine offizielle Diagnose im ICD-11 oder DSM-5 darstellt, erfolgt die Diagnostik häufig indirekt über:
- Psychologische Anamnese
- Fragebögen zu Resilienz, Abgrenzung und Empathie
- Ausschluss anderer psychischer Erkrankungen (z. B. Depression, Borderline)
Zudem sind psychosomatische Konsile in der Allgemeinmedizin oft ein Einstiegspunkt zur Erkennung.
Therapie und Prävention
Psychotherapeutische Ansätze
- Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Aufarbeitung früher Bindungserfahrungen
- Verhaltenstherapie: Erlernen von Abgrenzung, Nein-Sagen, Selbstfürsorge
- Schema-Therapie: Arbeit an maladaptiven Beziehungsmustern
- Körperorientierte Verfahren (z. B. Somatic Experiencing)
Präventive Maßnahmen
- Förderung emotionaler Intelligenz im Kindesalter
- Schulung in Selbstfürsorge und Abgrenzungskompetenz
- Entspannungstechniken (z. B. Yoga, Meditation, Atemarbeit)
- Gesunde Lebensführung: Schlaf, Ernährung, Bewegung
Komplementärmedizinische Ansätze
- Pflanzenheilkunde zur Stressreduktion (z. B. Passionsblume, Baldrian)
- Mikronährstofftherapie (Magnesium, B-Vitamine)
- Achtsamkeitstraining und Resilienzkurse
Ausblick und Fazit
Alexinomie steht als Konzept an der Schnittstelle von psychischer, sozialer und körperlicher Gesundheit. In einer Zeit zunehmender Reizüberflutung und Leistungsorientierung ist die Fähigkeit zur emotionalen Selbstabgrenzung essenziell. Eine gestörte Abgrenzung kann tiefgreifende gesundheitliche Folgen haben, wird jedoch bislang selten explizit thematisiert.
Es braucht ein verstärktes Bewusstsein in Medizin, Psychologie und Gesellschaft, um die Bedeutung von emotionaler Selbstfürsorge und Grenzen als Gesundheitsressource zu erkennen und zu fördern.
Weiterführende Studien und Fachliteratur
Vertiefende wissenschaftliche Beiträge zur emotionalen Selbstabgrenzung, psychosomatischen Gesundheit und therapeutischen Ansätzen bei alexinomischen Symptomen.
- Parentifizierung: Wenn Kinder in Elternrollen gedrängt werden AOK
- Alexinomie: „Lisa“ zu sagen, ist mir peinlich Psychologie Heute
- How to set boundaries and why it matters for your mental health UCDAVIS Health
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