Stress lass nach! Diesen Stoßseufzer hat jeder von uns schon losgeschickt, wenn wieder mal alles zu viel war. Tagtäglich auf der Überholspur, immer erreichbar per Smartphone, stets auf mentale Top-Form programmiert und möglichst bei allen Events in der ersten Reihe sitzen – beruflicher Druck und Zeitgeist fordern ihren Tribut. Mindestens 80 Prozent aller Deutschen leiden laut einer Forsa-Studie an Stress und seinen Folgen. Denn als Dauerzustand ist er Ursache für viele körperliche und seelische Beschwerden.
Doch Stress ist nicht gleich Stress. Ganz ohne geht es nicht. Wir wären sonst nicht in der Lage, unser Bestes zu geben, um den Chef zufrieden zu stellen oder den ganz normalen Wahnsinn des Alltags mit nervigen Staus im Straßenverkehr, langen Schlangen an der Supermarktkasse und den kurzfristig beschlossenen Erzieherstreik in der Kita zu meistern.
Es ist ein uraltes Programm, das in unseren Genen steckt. Für unsere Vorfahren in Wald und Steppe war es überlebenswichtig. Wenn sie etwa unverhofft einem Säbelzahntiger in den Weg liefen, hatten sie nur zwei Möglichkeiten: fliehen oder kämpfen. Um beides zu ermöglichen, schrillt im Kopf die Alarmglocke und löst eine Kaskade biochemischer Reaktionen hervor.
Zunächst schütten die Nebennieren größere Mengen der Hormone Adrenalin und Noradrenalin aus. Diese Botenstoffe machen den Organismus in Sekundenschnelle fit für den Notfall: Der Herzschlag beschleunigt sich, die Gefäße werden verengt, der Blutdruck steigt. So sind die Muskeln optimal durchblutet, mit Sauerstoff versorgt und spannen sich an, um sofort aktiv zu werden. Gleichzeit mobilisiert der Körper Zucker- und Fettreserven, denn die Energie wird jetzt dringend gebraucht. Die Pupillen sind vergrößert, um mehr Licht durchzulassen, damit den Augen kein bedrohliches Detail entgeht. Die Bronchien weiten sich, um zusätzlich Sauerstoff aufzunehmen. Die Körpertemperatur steigt, ein Schweißfilm gegen Überhitzung bildet sich auf der Haut.
Nur wenige Augenblicke später setzt die Hirnanhangdrüse in einem zweiten Schritt das Hormon Kortisol frei. Es fährt Entzündungsreaktionen herunter, drosselt die Schmerzempfindlichkeit und sorgt für eine schnellere Blutgerinnung – alles für den Fall, dass es Verletzungen gibt, die Kampf oder Flucht behindern könnten. Körperfunktionen, die in der Gefahrensituation nebensächlich sind, laufen hingegen auf Sparflamme: Verdauung, die Lust auf Liebe und das Zellwachstum. Dieses Notfall-Programm bezeichnen Wissenschaftler seit Anfang des letzten Jahrhunderts als Stress.
Ist die Gefahr gebannt, der Tiger besiegt oder das glimpfliche Entkommen gesichert, schaltet der Körper wieder auf Normalbetrieb. Die Hormonausschüttung stoppt, die heftigen Reaktionen lassen nach, und kurz darauf läuft alles wieder in gewohnten Bahnen.
Allerdings erleben wir heute kaum noch Stress-Situationen, auf die wir mit Kampf oder Flucht angemessen reagieren könnten. Weder der jähzornige Chef im Büro noch der begriffsstutzige Autofahrer vor uns an der Ampel lassen sich auf diese Art aus der Welt schaffen. Die Folge: Der Stress-Pegel bleibt auf hohem Niveau. Und aus dem Alarmsignal wird ein Dauerfeuer. Jetzt richten sich die Stress-Reaktionen, die eigentlich vor Gefahren schützen sollen, gegen den Körper und werden selbst zur Gefahr.