Kann eine Vorhersage vor gefährlichen Nebenwirkungen schützen? Dieser Frage ging ein Team von Wissenschaftlern vom Kompetenznetz Multiple Sklerose nach. Veröffentlicht wurden die Erkenntnisse rund um den Wirkstoff Alemtuzumab in der Fachzeitschrift BRAIN.
Alemtuzumab kann nämlich Immunzellen, welche das Molekül CD52 auf ihrer Oberfläche tragen ausschalten. Bei diesen Immunzellen handelt es sich vornehmlich um T- und B-Zellen. Der Wirkstoff Alemtuzumab wirkt gut und auch bei vielen Menschen nachhaltig gegen die schubförmige Multiple Sklerose. Allerdings weiß man auch, dass Alemtuzumab in einigen Fällen im Laufe der Zeit aber ungefähr das auslöst, was es eigentlich bekämpfen soll: den Angriff des Immunsystems auf körpereigene Strukturen. Am häufigsten zeigt sich das in Erkrankungen der Schilddrüse, aber auch Schäden an Blutzellen oder der Niere können die Folge sein.
Treten Nebenwirkungen auf, so wird man in den allermeisten Fällen das auslösende Präparat absetzen. Und genau das ist bei Alemtuzumab nicht möglich: Denn das Präparat wird idealerweise nur zwei Mal im Leben verabreicht und wirkt danach sehr langanhaltend. Es setzt das geschädigte Immunsystem von MS-Patienten zurück auf „Null” und baut es dann wieder so auf, dass es funktioniert. Die beschriebenen Nebenwirkungen, auch „sekundäre Autoimmunität” genannt, treten aber oft erst langfristig auf, zumeist zwei bis drei Jahre nach der Erstgabe. Und in diesem Fall ist es für eine Therapieumstellung zu spät. Das Ziel muss daher sein, die Nebenwirkung frühzeitig zu erkennen und optimal zu behandeln. Dafür ist es entscheidend zu verstehen, was im Immunsystem des einzelnen Patienten abläuft, bevor er oder sie Nebenwirkungen entwickelt. „Neben der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen das Medikament ist der wohl kritischste Zeitpunkt das erste Jahr. Hier wäre es enorm wichtig, wenn wir das Risiko einer sekundären Autoimmunität erkennen oder einschätzen könnten”, erläutert Priv.-Doz. Tobias Ruck, stellvertretender Direktor in der Neurologie des Universitätsklinikums Düsseldorf. Um festzustellen, ob jemand Gefahr läuft, sekundäre Autoimmunität zu entwickeln, beobachtete man über zwei Jahre hinweg bei MS-PatientenVeränderungen in Blut- und Nervenwasser-Komponenten vor und nach einer Alemtuzumab-Behandlung. Bereits 2019 hatten die Neurowissenschaftler einen Biomarker entdeckt, mit dem sich das Risiko von Nebenwirkungen auf die Schilddrüse einschätzen lässt.
„Man kann sich das vorstellen wie bei einem Teller mit einem Sprung. Der kann zerbrechen, wenn man ihn nur leicht anschlägt”, erläutert Prof. Heinz Wiendl, „Durch unsere Analysen sind wir dem Verständnis der Prozesse, die zur sekundären Autoimmunität führen, ein großes Stück nähergekommen. Nach Einschätzung des Studienteams kann das Repertoire an Antigen-Rezeptoren auf T- sowie B-Zellen Grundlage sein für eine Art Test, mit dem sich schon vor der Therapie das Risiko schwerer Nebenwirkungen einschätzen lässt.
Quelle: Alemtuzumab-induced immune phenotype and repertoire changes: implications for secondary autoimmunity. Brain.
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